Infobrief vom 16. Juli 2023: Du oder Sie beim Einkaufen

1. Presseschau

Du oder Sie beim Einkaufen

Um die Anredeformen im Deutschen geht es in einem Beitrag im Mitteldeutschen Rundfunk (mdr). Darin erläutert die Pressesprecherin der schwedischen Möbelkette IKEA, warum man sich 2003 entschieden hatte, die deutsche Kundschaft mit dem Werbespruch „Wohnst du noch, oder lebst du schon“ konsequent zu duzen, um damit ein „Stück schwedisches Lebensgefühl“ zu vermitteln. Mittlerweile machen das viele Unternehmen ähnlich (obwohl sie nicht aus Schweden stammen), sogar manche Banken sind mit ihren Kunden per Du. Eine Umfrage des mdr kommt aber zu dem Ergebnis, dass 61 Prozent der knapp 30.000 Befragten „eher nicht“ geduzt werden möchten. Stellung bezieht auch VDS-Vorstandsmitglied Silke Schröder. Gegen das ungefragte Duzen spreche, dass „die deutsche Sprache ein standardmäßiges Duzen überhaupt nicht vorsieht“, so Schröder. Mit dem Du oder Sie hätten wir die Möglichkeit, Nähe und Distanz im Gespräch zu wählen. Der Wirtschaftsberater Thomas Armbrüster meint, das Duzen komme bei einer jüngeren Klientel „ganz gut“ an. Er rät aber Unternehmen zur Vorsicht, weil es insbesondere ältere Kunden als übergriffig wahrnehmen können. (ardmediathek.de)


Gutgemeinte Umbenennung

Die Vagina sei als „Bonus-Loch“ zu bezeichnen, empfiehlt die britische Krebsorganisation Jo’s cervical cancer trust in ihrem Glossar zur Unterstützung von Trans-Männern und/oder von geschlechtlich nichtbinären Personen („Language to use when supporting trans men and/or non-binary people”). Der Eintrag ist mit dem Zusatz versehen, die Wortwahl solle mit den jeweils Betroffenen abgestimmt werden. Zur Wahl stehen im Original „bonus hole“ und „front hole“ sowie das vertraute „vagina“. Wie die Berliner Zeitung berichtet, soll diese – in den sozialen Medien kontrovers diskutierte – Änderung der Bezeichnung verwendet werden, um auch nicht-binäre Menschen oder Trans-Männer bei der Krebsvorsorge besser erreichen zu können.  Cervical cancer ist auf deutsch der Gebärmutterhalskrebs. Das Glossar soll offenbar dem ernsthaften Bemühen um eine taktvolle Klärung der Begriffe entsprechen. Ob das gelingt, sei dahingestellt. (berliner-zeitung.de, jostrust.org.uk)


Mehrsprachig in Bochum

Im nordrhein-westfälischen Bochum erhalten 1272 Schüler Unterricht in ihrer (nicht-deutschen) Muttersprache, teilte die Grünen-Fraktion mit. Die integrationspolitische Sprecherin der Grünen, Anna di Bari, erklärt, dass Mehrsprachigkeit ein großer Vorteil sei. Der Unterricht in der Muttersprache werde als eine Möglichkeit angesehen, den Schülern bei der Integration zu helfen und ihre sprachlichen Fähigkeiten vor allem auch in der Zweitsprache Deutsch zu verbessern. Am häufigsten vertreten sind Türkisch (472 Schüler), Arabisch (225 Schüler), Kurdisch (164 Schüler) und Griechisch (81 Schüler), aber auch sieben weitere Sprachen werden angeboten. Dafür wurden im Bochumer Stadtgebiet zwölf Personalstellen eingerichtet. (waz.de)


Antike Schrift entziffert

Die Schrift des antiken Kuschana-Reiches in Zentralasien (in Tadschikistan, Afghanistan und Usbekistan) war in der Gegenwart bisher unverständlich. Linguisten und Archäologen haben nun eine zweisprachige Inschrift entziffert, die 2022 in der Almosi-Schlucht im Nordwesten Tadschikistans entdeckt wurde. Der in eine Felswand geritzte Text ist in griechisch-baktrischer Schreibweise sowie in Kuschana-Schriftzeichen geschrieben und ist zum Teil von gleicher Bedeutung. Damit wurde es möglich, einen Großteil der bisher bekannten Kuschana-Zeichen zu entziffern. Das von Nomaden gegründete Kuschana-Reich war eines der einflussreichsten Imperien der Antike. Seit den 1950er Jahren wurden zahlreiche, meist kurze auf Felswände oder Tongefäße geritzte Inschriften entdeckt. Die Forscher ordnen die Sprache, in der die Kuschana-Schrift verfasst ist, als eine Variante der in der Antike gebräuchlichen mitteliranischen Sprachen Baktrisch und Mittelpersisch ein. Svenja Bonmann von der Universität Köln erklärt, dass die Sprache vorläufig „Eteo-Tocharisch“ getauft wurde und neben dem Baktrischen, Sanskrit und Gandhari eine der offiziellen Sprachen des Kuschana-Reiches gewesen sein könne. (scinexx.de)


2. Gendersprache

„Wortbinnenzeichen“ kein Kernbestand

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat seine mit Spannung erwartete Stellungnahme zum Gebrauch von Genderzeichen bekannt gegeben. Beschlossen wurde: nichts, zumindest nichts Neues. Der Rat bekräftigte auf seiner Tagung im belgischen Eupen die bestehende Regelung, orthographische Zeichen im Wortinneren (also „Wortbinnenzeichen“ wie den Asterisk *, den Unterstrich _ oder den Doppelpunkt 🙂 nicht in das amtliche Regelwerk aufzunehmen. Mit anderen Worten: Gendersternchen und Co. dürfen im Schulunterricht, in Gesetzestexten oder in amtlichen Schreiben nicht vorkommen. Zu einer von verschiedenen Seiten erhofften klaren Empfehlung für oder gegen diese Zeichen, konnte sich der Rat allerdings nicht durchringen. Er will die Entwicklung im Sprachgebrauch weiter beobachten. Denn solche Zeichen könnten „in verschiedenen Fällen zu grammatischen Folgeproblemen führen, die noch nicht geklärt sind“, stellt der Rat fest. Er sieht seine künftige Aufgabe dennoch besser systematisiert. Laut ntv bestätigte Ratsvorsitzender Josef Lange immerhin das Unbestreitbare: Dass es sich beim Gendern „nicht um eine orthografische, sondern um eine gesellschaftspolitische Diskussion“ handle. Deshalb könne man die Spannungen „nicht mit orthografischen Mitteln auflösen. Die Orthografie sei lediglich ein Vehikel.“ (faz.net, n-tv.de, vds-ev.de)


Keine Genderzeichen in Sachsen

Das Kultusministerium in Sachsen hat eine klare Haltung gegenüber Gendersonderzeichen: Formulierungen mit Doppelpunkt oder Sternchen werden im Unterricht als Fehler markiert. Geschrieben wird nach dem amtlichen Regelwerk; das gilt auch für offizielle Schreiben, Briefe an Eltern und Unterrichtsmaterialien. Nun hat das Ministerium auch Vorgaben für Kooperationspartner von Schulen erlassen: Unternehmen oder Projektpartner der Schulen oder des Ministeriums müssen sich an die geltenden Rechtschreibregeln halten. Dies wird künftig vertraglich festgelegt. Statt auf Genderformen solle auf Paarformen oder geschlechtsneutrale Varianten zurückgegriffen werden, da die Lesbarkeit und Verständlichkeit von Texten ansonsten beeinträchtigt werde. Ein Sprecher des Kultusministeriums betonte allerdings, dass sich die Einschränkungen nicht auf die gesprochene Sprache auswirken.
Kritik daran kommt von der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften (KSS) und vom Landesschülerrat (LSR) in Sachsen. „Vielen Lehramtsstudierenden ist es wichtig, in ihrem Unterricht die Vielfalt von Geschlecht angemessen abzubilden“, erklärte KSS-Referentin Nathalie Bock. (n-tv.de, saechsische.de)


Wissenschaftsrat für mehr Geschlechterforschung

Zu „schwach und provinziell“ um international mithalten zu können sei die Geschlechterforschung mit ihren aktuell 173 Professuren in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt der Wissenschaftsrat. Eine international besetzte Arbeitsgruppe hat die Disziplin seit 2021 evaluiert. Zwar habe sich die Geschlechterforschung seit ihren Anfängen eine Perspektive als kritische Wissenschaft erhalten und ihre Methoden professionalisiert. Aber der Rat fordert auch, mehr „methodische und thematische Offenheit für andere Theorietraditionen“ zu zeigen, sich auch „auf schwierige Diskussionen“ einzulassen und den Dialog in Forschung und Lehre zu suchen. Gerald Wagner (FAZ) liest darin durchaus die Kritik, dass die Geschlechterforschung den offenen Austausch meidet. Häufig sei das Fach dem Vorwurf ausgesetzt, es sei Ergebnis einer „Politisierung der Wissenschaft“ oder stelle lediglich eine als „Disziplin ausgeformte Ideologie“ dar. In der Öffentlichkeit werde das Fach vor allem mit Debatten um die Gendersprache oder mit Kritik am binären Geschlechtersystem verbunden. Eine breitere Verankerung der Geschlechterforschung – nicht nur in den Geistes-, sondern auch in den Naturwissenschaften – kann nicht nur Erkenntnisse zur Geschlechterungleichheit, sondern auch technische oder medizinische Innovationen befördern. Das dafür vielleicht bekannteste Beispiel ist der Schlaganfall, für den die Symptome, mithin die Behandlungserfordernisse bei Mann und Frau erheblich abweichen können. (faz.net (Bezahlschranke))

Claudia Wenzel gegen das Sprachgendern

Die Schauspielerin Claudia Wenzel, bekannt aus ihren Rollen in „Sturm der Liebe“ oder „In aller Freundschaft“, gab im Interview mit Die Tagespost bekannt, dass sie auf das Sprachgendern „verzichten“ könne. Das sei eine unnötige Bevormundung, sie schaffe nur Unzufriedenheit. (die-tagespost.de)


3. Kultur

„Dümmliche Gutmenschlichkeit“

In der Schweiz wird gestritten über politisch unkorrekte Sprache in literarischen Texten. Stein des Anstoßes war ein Gesuch des renommierten Schweizer Autors Alain Claude Sulzer, der für sein neues Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Genienovelle“ beim Kanton Basel-Stadt eine Förderung beantragte. In der Textprobe, die dem Antrag beilag, verwendet Sulzer mehrmals das Wort „Zigeuner“. Die zuständige Amtsleiterin für Kultur im Kanton, Katrin Grögel, erbat daraufhin eine Stellungnahme zum Gebrauch des Wortes. Sulzer fühlte sich zensiert, zog seinen Antrag zurück und ging an die Öffentlichkeit. Es äußerten sich unter anderem die Schriftsteller Eva Menasse („Katrin Grögel muss zurücktreten“) und Thomas Hürlimann („dümmliche Gutmenschlichkeit“). Mittlerweile rüsten beide Seiten wieder ab. Die Behörde gibt zu, in der Kommunikation hätte es besser laufen können. „Es darf aber, das ist mir wichtig, keine staatliche Zensur gegenüber Künstlern geben“, erklärte Grögels Chef, Regierungs­präsident Beat Jans. (bazonline.ch)


Deutsch-chinesische Erfolgsgeschichte in Gröbenzell

Die Gröbenzellerin Hefei Huang kam vor 30 Jahren nach Deutschland, seitdem setzt sie sich für den sprachlichen und interkulturellen Austausch zwischen Deutschland und China ein. Die ehemalige Germanistik-Studentin kam ursprünglich zum Studium nach Deutschland. Im Laufe der Jahre entwickelte sie eine Sprachschule mit eigenem Didaktikkonzept sowie den Huang-Verlag. Zusammen mit ihrem Ehemann schreibt sie zwei bis drei Lehrbücher pro Jahr. Die Materialien richten sich an Chinesen, die Deutsch lernen möchten, jedoch auch an Deutschsprachige, die Chinesisch erlernen wollen. Neben Kursen für Kalligrafie, der alten, meditativen Schreibkunst, bietet sie seit einiger Zeit auch Online-Deutschkurse für Chinesen an, die nach Deutschland kommen möchten. (sueddeutsche.de)


SachsenGPT

Eine Nagelprobe für den Erfolg von KI wird die Fertigkeit im Umgang mit Dialekten sein. Der saarländische Physiker Alain Knorr hat nun mithilfe künstlicher Intelligenz eine Sprachanwendung geschaffen (ähnlich ChatGPT), die deutsche Dialekte beherrschen soll. Knorr entwickelte zunächst ein mit der saarländischen Mundart ausgestattetes Chatprogramm und ein „BerlinerGPT“. Sein neuestes Projekt ist „SachsenGPT“, allerdings beinhalte das Programm noch einige Sprachfehler. Teilweise würden noch verschiedene Dialekte vermischt. Spezifische orthografische Regeln existieren im Sächsischen nicht, das Bundesland besteht aus 20 verschiedenen Sprachregionen. Knorr forscht weiter an dem lernfähigen Programm, damit die digitale Kommunikation mithilfe der künstlichen Intelligenz auch in deutschen Dialekten möglich wird. (saechsische.de)


4. Berichte

Offener Austausch in Wittenberg

Wo man sonst gerne gendert, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, kam Jörg Bönisch vom Vorstand des VDS zu Wort. Dort war jüngst Prof. Plöhn quasi mit einem Berufsverbot belegt worden, da er Genderschreibweisen in studentischen Arbeiten als Rechtschreibfehler gekennzeichnet hatte. Das heiße Eisen „Geschlechtergerechte Sprache“ war nun Gegenstand von Bönischs Vortrag am 10. Juli 2023 in der „Redezeit“,  einer vierteljährlichen Veranstaltungsreihe für den Austausch über die deutsche Sprache, und wie sie das alltägliche Leben bestimmt. Diese Reihe ist Ausdruck der erfolgreichen Zusammenarbeit der Stiftung Leucorea mit dem WortWerkWittenberg (WWW) – einer Initiative des VDS in Sachsen-Anhalt – und dem Institut für deutsche Sprache und Kultur. Gegründet wurde die Stiftung LEUCOREA 1994 mit dem Ziel, wieder akademisches Leben in Wittenberg zu etablieren. An jenem Ort, wo vor 500 Jahren eine der renommiertesten Universitäten Deutschlands eröffnet wurde. Die nächste „Redezeit“ findet statt am 9. Oktober in der Leucorea zu Wittenberg (der Infobrief wird daran erinnern).


5. Denglisch

„Welcome Center“ in Augsburg

Die Stadt Augsburg plant die Umbenennung der Ausländerbehörde. Die Dienststelle wird künftig den Namen „Sachgebiet Migration und Aufenthalt“ tragen und in einigen Bereichen durch die Zusatzbezeichnung „Welcome Center“ ergänzt. Die Behörde unter dem Namen „Willkommensbehörde“ firmieren zu lassen, sei nicht angemessen, sagt Frank Pintsch, Ordnungsreferent des Stadtrats. Denn sie sei auch für Abschiebungen zuständig. Pintsch erklärt jedoch nicht, wie die englische Bezeichnung diesen Widerspruch auflösen könne. Auch nicht, wie man mit Englisch den Eindruck vermeiden könne, dass Deutsch vielleicht doch nicht die zuerst zu erwerbende Sprache sei. ( augsburger-allgemeine.de)


6. Kommentar

Erwartungen enttäuscht

Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist die oberste Instanz, um die Einheitlichkeit der deutschen Sprache zu bewahren – nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Ländern, wo die deutsche Sprache eine amtliche Funktion hat. Nun hat er getagt, in Eupen bei der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Seine Aufgabe wäre es gewesen, eine Antwort darauf zu geben, ob die deutsche Sprache tatsächlich so diskriminierend ist, wie manche ihr vorwerfen und mit Sonderzeichen „gerechter“ machen wollen. Mitarbeiter von Behörden, aus dem Verlagswesen und viele Lehrer hatten sich eben deswegen im Vorfeld an den Rat gewandt. Seine Mitglieder haben sich aber nicht getraut, darauf eine Antwort zu geben. Der Rat müsse die Entwicklung von „Wortbinnenzeichen“ im Sprachgebrauch weiter beobachten. Diese könnten zu „grammatischen Folgeproblemen führen, die noch nicht geklärt sind.“ Als Beispiel dafür nennt der Rat die Mehrfachnennung von Artikeln oder Pronomen wie in Die Wahl obliegt dem*der Präsident*in. Es ist schwer zu verstehen, was es daran noch zu beobachten gäbe. Diese Wortbildung ist nicht nur sperrig und nicht vorlesbar, sie ist schlicht falsch. Es fehlt die Dativform im Maskulinum. Die Grammatik des Deutschen spielt da keine Rolle mehr. Zwar bekräftigte der Rat heute die bestehende Regelung, dass Sonderzeichen wie der Genderstern nicht in das Regelwerk aufgenommen werden. Aber die große Mehrheit der Sprachgemeinschaft hätte sich eine Aussage dazu gewünscht, dass die grammatisch richtigen generischen Formen wie in Die Wähler haben entschieden genau die Gerechtigkeit bringen, nach der alle suchen. Diese Chance hat der Rat vertan. (Holger Klatte)


Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion wider.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Jeanette Zangs

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