Infobrief vom 20. März 2023: Coronasprache im Fluss

1. Presseschau

Coronasprache im Fluss

Spuren im Wortschatz hinterlässt die Corona-Pandemie: Lockdown, Homeoffice, Kontaktbeschränkung, Herdenimmunität – Wörter mit teils neuen Begriffen, die vor der Pandemie im täglichen Sprachgebrauch kaum oder gar nicht vorkamen. 2500 Begriffe habe das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim gesammelt, schreibt das Ärzteblatt, sie alle hätten den Wortschatz erweitert. Welche davon sich halten und auch in späteren Jahren genutzt würden, sei im Moment nicht abzusehen, heißt es. Das IDS plant derweil ein Coronawörterbuch, das alle Einträge nach der Verwendung gruppiert und beschreibt. (aerzteblatt.de)


Rassismusvorwurf gegen Abiturlektüre

Eine Ulmer Lehrerin hat eine Petition gegen den Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen gestartet, nachdem sie über dessen häufigen Gebrauch des „N-Worts“ erschrocken und schockiert war. Als selbst von Rassismus Betroffene bezeichnet sie diese Wortwahl als Ausdruck der Unterdrückung und Entmenschlichung, die einen unmittelbaren Angriff auf ihre Menschenwürde darstelle. Das Land Baden-Württemberg begründet die Auswahl des Werks als Pflichtlektüre unter anderem damit, dass auch der beschriebene Rassismus in der Schule thematisiert werden solle. Dem widerspricht die Literaturprofessorin Magdalena Kißling von der Universität Paderborn: Die Lehrkräfte sollten das zwar vermitteln, seien aber oft nicht dafür ausgebildet, Rassismus in der Literatur zu erkennen: „Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen.“ Außerdem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht noch nicht ausgereift genug, sagt Kißling. Die Lehrerin möchte das Buch in der Schule nicht behandeln und hat darum vorerst einen Antrag auf Beurlaubung gestellt. Für die Zukunft hofft sie, dass der Unterricht bald zu einem „sicheren und rassismusfreien Ort für alle“ werde. (swr.de)


Sprachenlernen für Erwachsene

Zu alt zum Lernen? Der Wissenspodcast des SWR2 ist mit der Frage befasst, wie Erwachsene Sprachen lernen und ob es für das Erlernen neuer Sprachen eine Altersobergrenze gebe. Die Forschung bestätigt, dass Kinder aufgrund ihres plastischen Gehirns Sprache intuitiv aufnehmen und Erwachsene schnell überholen können. Allerdings ist die Lernkapazität der Erwachsenen bei weitem nicht so schlecht wie häufig angenommen. Mithilfe des Rückgriffs auf bereits vorhandenes Sprachwissen und auf kognitive Hilfssysteme lernen sie ganz anders als Kinder, jedoch nicht zwingend weniger effizient. Das noch größere Hindernis zur Beherrschung der Sprache ist indes psychologischer Natur: Erwachsene haben Angst vor Fehlern und eine ausgeprägte soziale Selbstwahrnehmung. Die eigene Kompetenz in der fremden Sprache nicht ausdrücken zu können, führt zu Schamgefühlen und Hemmungen, von denen sich Kinder nicht bremsen lassen. Der Perfektionsanspruch, die Sprache entweder gleich „ganz“ oder „gar nicht“ beherrschen zu wollen, steht dem Lernen im Wege. Die großen Meister der Vielsprachigkeit, die Polyglotten – ab über 20 Sprachen auch hyperpolyglott genannt – lehnen Perfektion als Ziel ab. Die bei der Sprachlernapp Duolingo beschäftigte Linguistin Cindy Blanco empfiehlt , die Sprache gleich selektiv im Hinblick auf ein bestimmtes Kommunikationsziel und mit darauf ausgerichteter Methode zu lernen und dabei jeden Wissensgewinn mit Selbstvertrauen einzusetzen. Moderne elektronische Apps könnten einen geeigneten individuellen Lernplan automatisch erstellen. Ihr motivationshemmender Nachteil sei allerdings der fehlende Austausch in der Gruppe. Wer jedoch die nötige Geduld und Disziplin mitbringt, dürfe unabhängig von seiner gewählten Methode auch im höheren Semester noch auf Erfolg hoffen. (swr.de)


Orthographie noch von Bedeutung

Rechtschreibung bleibt wichtig. Henning Lobin, Chef des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache, betont, dass Orthographie auch im digitalen Zeitalter noch von Bedeutung sei. Gute Rechtschreibung sei eine Voraussetzung für effizientes Lesen und Verstehen. Auch in der digitalen Vorstellung der eigenen Person wie etwa in einer Bewerbung, tue man sich mit der Rechtschreibung als gebildeter Mensch hervor, mit besserer Chance auf einen guten Arbeitsplatz. Sprachkompetenz gewähre gesellschaftliche Teilhabe, mangelhafte Beherrschung könne zur sozialen Ausgrenzung führen, sagt Lobin. (westfalen-blatt.de)


2. Gendersprache

Volksbegehren in Baden-Württemberg

Nach dem Vorbild in Hamburg wurde jetzt die Vorbereitung eines Volksbegehrens in Baden-Württemberg gegen das Gendern begonnen. Der Heidelberger Rechtsanwalt Klaus Hekking (CDU) hat die Initiative ergriffen. „Eine Vorgabe, so zu sprechen und zu schreiben, ist ein nicht akzeptabler Eingriff in die Meinungsfreiheit“, sagte er der dpa. Er will erreichen, dass es in Schulen, Behörden etc. keine Vorgaben gibt, Gendersprache anzuwenden. Dazu hat er gemeinsam mit den anderen Initiatoren einen Gesetzentwurf erarbeitet, der auf der Internetseite der Initiative abrufbar ist. Um den parlamentarischen Weg beschreiten zu können, werden im ersten Schritt 10.000 Unterschriften von wahlberechtigten Baden-Württembergern benötigt. (stuttgarter-nachrichten.de, stoppt-gendern-in-bw.de)


Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache

Gendersensible Schreibung war ein Hauptthema der 59. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Sie stand dieses Jahr unter dem Titel „Orthographie in Wissenschaft und Gesellschaft“. Diskutiert wurden unter anderem das kontroverse Gendersternchen, welches der Rat für deutsche Rechtschreibung nach wie vor ablehnt sowie andere Sonderzeichen im Wortinneren. Aktuelle Forschungen und Meinungsumfragen sollten hierbei berücksichtigt werden. Auch der Umgang mit Neologismen und Entlehnungen aus dem Englischen sollte diskutiert werden. „Neue digitale Medien würden veränderte, nutzungsorientierte Vermittlungsstrategien orthographischer Inhalte erfordern“, berichtet der SWR. Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Amtliche deutsche Rechtschreibung – wozu?“ sowie die Verleihung des Hugo-Moser-Preises und des Peter-Roschy-Preises bildeten die Höhepunkte des Programms. (swr.de)


3. Sprachspiele: Unser Deutsch

Schanigarten

Auch in Deutschland bürgert sich dieser hübsche Name ein, er steht für die amtlich genehmigte Außengastronomie oder Freischankfläche, also Tische und Stühle vor einem Café, einer Gaststätte. Genutzt wurden Parkplätze, Straßen, Bürgersteige. Begonnen hat es während der Corona-Pandemie. Es war eine Notmaßnahme, um der Gastronomie das Überleben zu ermöglichen. Essen im Freien, bisher nur aus ländlichen Biergärten bekannt, jetzt mitten in den Städten, hat sich schnell bewährt. Dies ist auch dem Klimawandel geschuldet und unterstützt die Befreiung der Städte vom Autoverkehr. So hat die Stadt München unlängst solche Schanigärten auf öffentlichem Grund grundsätzlich erlaubt. Es soll schon 650 geben, andere bayerische Städte planen noch. Ein Erfolgsmodell städtischer Lebenskultur.

Aber woher kommt der Name? Gewiss ist, dass Schanigärten in Wien seit langem populär sind. Sprachwissenschaftler haben herausgefunden, woher das Wort wohl stammt. Als Begründer dieser Einrichtung gilt der Wiener Johann Jakob Taroni, der im Jahre 1750 als erster die Erlaubnis erhielt, Tische und Stühle vor sein Restaurant zu stellen. Er wurde, weil italienischer Herkunft, Gianni gerufen, im Wiener Mund Schani ausgesprochen und bald auch so geschrieben. Solche Vereinfachung erklärt sich daraus, dass die Affrikate /dsch/ (in Gianni) eigentlich nicht zum Lautinventar des Deutschen gehört und auch dem Wiener Dialekt fremd ist. Ähnlich erging es in Deutschland dem englischen Vornamen George der zu Schorsch vereinfacht wurde. Hinzu kommt – und das ist die zweite Erklärung –, dass männliche Bedienstete oft einfach Johann oder Jean(i) gerufen wurden. Auch das könnte im Schanigarten fortleben. Mir scheint jedoch die erste Erklärung plausibler. Bis heute werden viele Gaststätten nach dem Vornamen ihres Besitzers benannt. Das bekannteste Beispiel ist der Stachus in München, dessen Name auf den Gastronomen Eustachius Förderl zurückgeht. Dessen Gaststätte und Biergarten am Neuhauser Tor, erstmals 1728 bezeugt, war als Stachus geläufig. Danach wurde im Volksmund auch der Platz benannt. Die Umbenennung zum Karlsplatz nach dem bayerischen Kurfürsten Karl Theodor im Jahre 1792 blieb unpopulär. Selbst die U-Bahn-Station führt bis heute einen doppelten Namen. So schreiben Namen Geschichte.

Ähnlich wurde in Wien aus Gianni der Schanigarten. Schon Taroni musste übrigens seinen Garten offiziell genehmigen lassen. Und so ist es bis heute in Wien. Welche öffentliche Fläche wird freigegeben? Wie wird sie abgegrenzt, geschmückt und wie lange darf hier ausgeschenkt werden? Aus Wikipedia erfahren wir auch feministisch Interessantes. Die neuen Wiener Schanigärten waren besonders bei Frauen beliebt, die in Gaststätten nicht ohne Begleitung willkommen waren. Schanigärten als Emanzipationshelfer.

Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de


4. Kultur

Glück auf, Glück auf!

Das Steigerlied ist ab sofort immaterielles Kulturerbe in Deutschland. Die Kulturministerkonferenz hat es in das bundesweite Unesco-Verzeichnis aufgenommen. Seinen Ursprung hat das Steigerlied im sächsischen Erzgebirge, die Ursprünge gehen auf das 16. Jahrhundert zurück. Den ersten Beleg für eine öffentliche Aufführung gibt es in der Beschreibung einer Festveranstaltung von 1678, die in Schneeberg zu Ehren des sächsischen Kurfürsten Johann Georg II. abgehalten wurde. Das Steigerlied beschreibt die harte und gefährliche Arbeit der Bergleute und die Hoffnung, am Ende der Schicht wieder gesund bei der Familie anzukommen. Bis heute ist es bei vielen Familienfeiern oder Sportereignissen nicht mehr wegzudenken. (faz.net)


Besorgnis um deutsche Dialekte

Im Interview mit SWR1 sprach der Sprachwissenschaftler Dr. Ralf Knöbl über die sinkende Bedeutung der Dialekte, welche er mit Bedauern beobachtet: Die Weitergabe an die jüngere Generation finde immer weniger statt, und so werden Dialekte wie das Niederdeutsche an den Rand des Aussterbens getrieben. Immerhin genieße es seit jüngerer Zeit einen besonderen Schutz als Regionalsprache. Ein Hauptgrund für die mangelnde Verwendung des Dialekts ist laut Knöbl sein mangelndes Prestige: Meist haftet den Dialekten der Ruf an, durch sie bäuerlich und ungebildet zu wirken. In Regionen wie der Schweiz hingegen sei das Schweizerdeutsch sozial anerkannt und gleichbleibend geläufig. (swr.de)


„Leicht Kicken“ – Fußball in leichter Sprache

Die Beratungsstelle für Inklusion im Fußball „KickIn!“ veröffentlicht auf leicht-kicken.de ein Online-Wörterbuch mit über 200 Wörtern aus der Welt des Fußballs. Das Ziel von leichter Sprache besteht darin, Menschen, die Probleme mit Texten in normaler Umgangssprache haben, bei ihrem Sprachverständnis zu unterstützen. Dazu können neben Lernbehinderten auch ältere Menschen zählen. Das Projekt wurde von mehreren namhaften Fußballklubs sowie dem DFL unterstützt. Die Bundesliga-Reiseführer-App der Deutschen Fußball-Liga steht ebenfalls in leichter Sprache zur Verfügung. (dfl.de)


Generation Z und die digitale Jugendsprache

In den sozialen Netzwerken bilden sich neue Sprachgewohnheiten nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch innerhalb verschiedener Generationen spezifisch heraus. So leben beispielsweise die Jungen der Generation Z (geboren zwischen 1995 und 2010) in einer Kommunikationswelt, die auch für nur geringfügig ältere Menschen fremd erscheinen mag. Unumgänglich ist hierbei das breite Inventar an Anglizismen, die durch den internationalen Charakter der Medien und insbesondere die „Meme“-Kultur mühelos importiert werden (bei einem Meme handelt es sich typischerweise um eine Art visuellen Witz, der aus einem kleinen Bild und etwas Text besteht). Auch die Verwendung von Emojis und anderen Zeichen und Symbolen variiert zwischen den Generationen stark. Auffällig für die Sprachmelodie junger Influencer in Audio-Formaten ist darüber hinaus ihr charakteristischer Redefluss, der durch schnelle Schnitte und eine gehobene Intonation am Satzende entsteht, wie die Sprachwissenschaftlerin Konstanze Marx erklärt. Um einen Sprachverfall handelt es sich hierbei laut der Germanistin nicht, sondern vielmehr um eine Erweiterung des Ausdrucksrepertoires, die auch in früheren Generationen analog stattgefunden habe. Und wie sie schließlich anfügt: „Wer sich jetzt um Sprache sorgt“, solle doch lieber in „Bildung und Zeit und Schule“ investieren, anstatt in den neuen Medien die Verantwortung zu suchen. (wdr.de)


Plastikeule macht Lust aufs Lesen

In der Stadtbibliothek Euskirchen wurde mit der Plastikfigur „Luka“ ein automatischer Vorleseapparat angeschafft, der mithilfe seiner Kamera die aufgeschlagene Seite erkennen und vorlesen kann. Besonders mehrsprachige Kinder ab 3 Jahren sollen hiermit beim Lesenlernen unterstützt sowie in der frühkindlichen Sprachentwicklung gefördert werden. Die Bücherei hat zu diesem Zweck auch neue Bilderbücher in verschiedenen Sprachen angeschafft. (radioeuskirchen.de)


5. Kommentar

Böse Literatur

Wie uns der Fall in Ulm lehrt, stehen die gymnasialen Lehrkräfte unter Verdacht, sie seien nicht dafür ausgebildet Rassismus in der Literatur zu erkennen. Für die Macht von Sprache seien sie zu wenig sensibel. Zudem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht „noch nicht ausgereift genug“. Daraus folgt messerscharf, dass Bücher wie Koeppens „Tauben im Gras“ zu meiden sind wie die Pest. Zwar stellt sich dem laienhaften Elternteil ganz nebenbei die Frage, was Germanisten und Anglisten für das Lehrfach so lernen, wenn nicht den Umgang mit der Sprache und ihren Abgründen, aber dieser Einwand lenkt ab vom Wesentlichen: Also ist das Wahre, das Gute und Schöne demnach auf keinen Fall der bösen Literatur – die das Reale, das Hässliche schon mal beim Namen nennt – zu entnehmen? Eine rassismusfreie Welt entsteht durch Desinfektion der Sprachen? Und solchen Blödsinn glauben erwachsene Menschen? (Oliver Baer)


Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion wider.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Clara Lietzmann, Asma Loukili, Dorota Wilke, Jeanette Zangs

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