Infobrief vom 14. Dezember 2024: Schwach im Lesen

1. Presseschau

Schwach im Lesen

„Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind bis 10.00 Uhr hier ist“. So lautet ein Satz aus der neuen Bildungsstudie PIAAC, den die Studienteilnehmer zu interpretieren hatten. Etwa 22 Prozent der deutschen Erwachsenen hatten Probleme, den Inhalt dieser Aussage richtig zu erfassen. In Deutschland haben 4.800 Menschen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren an der Studie teil­genommen, insgesamt waren es in 31 Ländern 160.000 Teilnehmer. Getestet wurden Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenz sowie die Problemlösungsfähigkeit. Am besten schnitten Finnland, Japan, die Niederlande, Norwegen und Schweden ab. Deutschland liegt mit seinen Ergebnissen zwar über dem Durchschnitt der OECD-Mitgliedstaaten und schneidet besser ab als bei der Vergleichsstudie 2012. Aber das liegt vor allem daran, dass die Ergebnisse insgesamt schlechter waren. „In Finnland liegt die mittlere Lesekompetenz aller Erwachsenen über der mittleren Lesefähigkeit deutscher Hochschulabsolventen“, schreibt Heike Schmoll in der FAZ. Anlass zur Sorge bereitet vor allem, dass die Lesekompetenz bei Geringqualifizierten abnimmt, und zwar so weit, dass viele kaum in der Lage sein werden, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. (faz.net (Bezahlschranke))


„Ampel-Aus“ ist Wort des Jahres

Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) kürte „Ampel-Aus“ zum Wort des Jahres 2024. Das Ende der Ampelkoalition fiel nicht nur aufgrund seiner gesellschaftlichen und politischen Bedeutsamkeit auf, sondern wurde auch aufgrund sprachlicher Auffälligkeiten zum Wort des Jahres gewählt. „Ampel-Aus“ beinhalte eine Alliteration und die Präposition „aus“ erscheine als Substantiv, erklärt die Gesellschaft für deutsche Sprache. Seit 1977 kürt die GfdS Wörter und Wendungen des Jahres. Wichtig hierbei sei nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks, sondern die Bedeutsamkeit und Popularität. Die Juroren wählten aus tausenden Vorschlägen zehn Begriffe, die das Leben sprachlich besonders prägten. „Klimaschönfärberei“ landete auf dem zweiten Platz,„kriegstüchtig“ auf Position drei. Im vergangenen Jahr belegten „Krisenmodus“, „Antisemitismus“ und „leseunfähig“ die ersten drei Plätze. (zeit.de)


Über Sprache nachdenken

Manchmal ist es sinnvoll, Sprache zu reflektieren – denn manchmal kann sie auch ungewollt verletzten oder Vorurteile schüren. Zu diesem Schluss kommt Heike Groll in ihrem Meinungsartikel in der Volksstimme. In einem anderen Artikel war über eine Aktion berichtet worden, die Kindern und Familien in schwierigen sozialen Situationen helfen soll. Hier wurde der Begriff „Problemkind“ (auch im Original-Artikel mit Anführungszeichen) genannt. Eine Leserin kritisierte das und wünschte sich einen sensibleren Umgang mit der Sprache. Sie habe recht, so Groll, auch die Anführungszeichen machten die Distanzierung von dieser Formulierung nicht besser: „Schwierigkeiten klar zu beschreiben, gehört zum journalistischen Auftrag. Den Eindruck entstehen zu lassen, dass Menschen an sich Probleme seien, widerspricht hingegen der Pflicht, ihre Würde zu achten. (…) Statt eines starken Signalworts hätte ein einziges Wort ausgereicht, die zu benennen, um die es geht: Kinder, ganz einfach.“ (volksstimme.de)


Bayern liest am besten Englisch

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt seit 2004 jährlich eine Vergleichsstudie zu den Bildungssystemen der einzelnen Bundesländer. Im Bildungsmonitor 2024 stellte sich heraus, dass Neuntklässler in Bayern am besten im Fach Englisch abschneiden. Die sprachlichen Fähigkeiten werden innerhalb der Studie mit Kompetenzpunkten bemessen. Die Schüler in Bayern erhielten 542 Kompetenzpunkte für das Lesen in Englisch. Auf dem letzten Platz mit 479 Punkten landet das Saarland. (swp.de)


2. Gendersprache

Nur noch Frauen gemeint?

Geisel, Koryphäe, Person – im Deutschen können auch feminine Personenbezeichnungen geschlechtsübergreifend sein. Neuerdings hört man im Radio und anderen gesprochenen Medien häufiger auch dort das „generische Femininum“, wo es eigentlich nicht hingehört und sogar zu Missverständnissen führt. Helmut Viereck gibt in der WELT Beispiele: In Finnland gibt es viele Schutzräume für Finninnen (Männer werden abgewiesen?), Friedrich Merz kommt bei den Wählerinnen nicht gut an (aber die Männer mögen ihn?). „Deshalb gibt es in der Grammatik mit gutem Grund nur ein Generikum und nicht zwei“, so Viereck. Das generische Femininum schaffe Verwirrung, wo das traditionelle Deutsch Eindeutigkeit herstelle. (welt.de (Bezahlschranke))


Zwei Städte – zwei Gender-Entscheidungen

Unterschiedlicher hätten die Abstimmungen in zwei Städten in Brandenburg nicht sein können. Die Kreistage in Ostprignitz-Ruppin und Potsdam-Mittelmark haben über das Gendern in der Verwaltung abgestimmt. In Ostprignitz-Ruppin habe es Diskussionen gegeben, sagte Landrat Ralf Reinhardt (SPD) dem rbb: „Die Gleichstellungsbeauftrage des Landkreises hat dabei auch noch einmal klargestellt, dass wir auch das Landesgleichstellungsgesetz beachten müssen als Verwaltung.“ (Anm. d. Red.: Das Landesgleichstellungsgesetz des Landes Brandenburg sagt in § 13 (Sprache) nichts über Genderzeichen aus, sondern verweist auf die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und rät zu geschlechtsneutralen Personenbezeichnungen. Wo diese nicht gefunden werden können, „ist die weibliche und männliche Sprachform zu verwenden.“). Die Mitglieder des Kreistags entschieden sich schließlich, auch zukünftig mit Doppelpunkt zu gendern.
In Potsdam-Mittelmark schlug die CDU vor, alle Personen-, Amts- und Funktionsbezeichnungen in der Hauptsatzung im generischen Maskulinum zu belassen. So sollten Texte „klar, eindeutig und möglichst verständlich“ bleiben, hieß es in der Begründung. Mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD wurde der Antrag angenommen. Melanie Balzer, Vorsitzende der SPD-Kreistagsfraktion, kritisierte die Entscheidung im Nachgang scharf: „Wenn eine konservative Mehrheit im Kreistag glaubt, dass es richtig sei, sich mit solchen Entscheidungen zurück ins 20. Jahrhundert zu katapultieren, dann kann ich mich nur wundern.“ (tagesschau.de)


Straße mit Sternchen

Das Berner Stadtparlament diskutierte in der vergangenen Woche über den Vorschlag, Straßennamen im Stadtgebiet künftig zu gendern. Bereits im Jahr 2021 wurde das Thema von Jemima Fischer, Stadträtin von der Alternativen Linken, vorgestellt. Man wolle durch die Umbenennungen den „patriarchalen Dogmatismus“ hinter sich lassen und mehr „Gleichberechtigung im öffentlichen Raum“ zeigen. Fischer fordert, dass alle Straßennamen neben der weiblichen Form auch nichtbinäre Varianten beinhalten. Hierzu könne man entweder den Genderstern oder einen Schrägstrich verwenden. Aus dem Fischerweg werde somit der Fischer*innenweg, der Buchdruckerweg zum Buchdrucker/innenweg und der Genossenweg wird abwechselnd zum Genossinnenweg. Laut Fischer müssten die Anwohner ihre Adressen nicht ändern, da die Post auch gegenderte Straßen finden könnte. Die FDP antwortete jedoch, dass diese Vorschläge „fernab der Realität“ seien und die Stadt wichtigere Probleme habe, etwa die hohe Verschuldung. Mit deutlicher Mehrheit entschied das Parlament das Anliegen an den Gemeinderat zu übertragen. Dieser lehnte im weiteren Schritt die Umbenennung aufgrund der hohen Kosten und des administrativen Aufwands ab. Als Kompromiss wolle man künftig weibliche Namen bei Straßenbenennungen bevorzugen. (nzz.ch)

3. Kultur

„Grüffelo“ auf Friesisch

Seit 1999 erfreuen sich Kinder an dem bekannten Kinderbuch „Grüffelo“, der Geschichte eines grimmigen Monsters, welches sich als freundlich und hilfsbereit herausstellt. Seit der Veröffentlichung erschien das Buch auch in verschiedenen Dialekten, etwa Schwäbisch, Kölsch und Platt. In Zusammenarbeit mit der Ferring Stiftung gibt es nun auch zwei Ausgaben auf Friesisch.  Der Vorsitzende der Ferring Stiftung, Robert Kleih, erklärt, dass es zwar schon eine Ausgabe auf Friesisch gebe, es sich hierbei jedoch um Westfriesisch handele, was in den Niederlanden gesprochen wird. Die neuen Ausgaben erscheinen in den Friesisch-Dialekten Öömrang und Fering, welche auf Amrum und Föhr (Kreis Nordfriesland) gesprochen werden. Der britische Verlag, in dem das Buch ursprünglich erschienen ist, gab sein Einverständnis, das Buch in kleiner Auflage für die friesischen Dialekte zu drucken. Kleih berichtet, dass es sich zwar um ein Minusgeschäft handle, man die einzelnen Dialekte jedoch unterstützen möchte. Seinen Ausführungen zufolge sprechen rund 3.000 Föhrer noch Fering. (ndr.de)


Sprachliche Vorurteile

Das länderübergreifende Forschungsprojekt „VariPrag“ beschäftigt sich mit unterschiedlichem Kommunikationsverhalten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Dabei geht es unter anderem auch um das Konzept der Höflichkeit: Wann und wo wird der Konjunktiv verwendet? Wo und wen grüße ich? Es kann vorkommen, dass unterschiedliche Vorstellungen von höflichem Verhalten zu Konflikten führen, beispielsweise am Arbeitsplatz, wenn sich Schweizer und deutsche Arbeitskollegen in der vermeintlich gleichen Sprache unterhalten. In der Umfrage wird auch nach spezifischen Zuschreibungen gefragt: Schweizer sind „langsam“, Deutsche „direkt und deutlich“ und ohne Konjunktiv bekommt man in Wien keinen Kaffee serviert. (variprag.net)


4. Berichte

VDS in Aserbaidschan

In der ersten Dezemberwoche fand an der Sprachenuniversität in Baku die Konferenz „Perspektive 2030: Deutsch in Vielfalt lehren, lernen und erforschen“ des Deutschlehrerverbandes statt. Rund 60 Deutschlehrer aus dem schulischen und akademischen Sektor zeigten Praxisbeispiele und entwickelten Perspektiven für das Fach Deutsch in Aserbaidschan. VDS-Regionalleiterin Gülenber Pirnasarova hielt einen Vortrag mit dem Titel: „Was macht der VDS in Aserbaidschan für Deutsch?“ Sie stellte in einer Präsentation einige VDS-Veranstaltungen in Baku vor, darunter der jährlich gefeierte Tag der deutschen Sprache, der teilweise unter Beteiligung der Botschaftsvertreter Deutschlands und Österreichs stattfindet, oder auch Vortragsveranstaltungen wie der Vortrag des Germanisten Heinrich Kelz („Aktuelle Probleme der Germanistik“) im Jahr 2012. (azertag.az)


Hinweise zu Genderzwängen

Unter dem Motto „Stoppt Gendern, weil Sprache allen gehört“ unterstützt die bundesweite Infoplattform stoppt-gendern.de ein breites Spektrum direktdemokratischer Maßnahmen für die Rückkehr zum Standardhochdeutschen in der öffentlichen Kommunikation. Seit Anfang Dezember gibt es auf der Netzseite ein anonymes Hinweisgebersystem. Es bietet erstmals Gelegenheit, Erfahrungen mit der Gendernötigung mitzuteilen, durch Dokumente zu belegen und in einem System zentral zu bündeln. Wo, wie und durch wen wird man mit Genderzwängen konfrontiert? Als Mitarbeiter am Arbeitsplatz, als Erziehungsberechtigter, als Student oder Schüler durch Bildungseinrichtungen, als Kunde durch Unternehmen oder ganz allgemein als Staatsbürger durch Behörden? (stoppt-gendern.de)


Neue VDS-Dokumentation im Deutschlandfunk

„Mein Jahr unter Sprachrettern“ ist der Titel einer neuen Radio-Dokumentation, die in dieser Woche im Deutschlandfunk zu hören war (und als Podcast weiterhin zu hören ist). Der Journalist Rainer Link wollte eigentlich über „Akteure“ berichten, die sich dem „Schutz der Muttersprache verpflichtet fühlen“. Stattdessen wirft er Themen wie Sprachkritik und Genderpolitik munter durcheinander und findet Versuche einer „Wiederbelebung rückwärtsgewandter Weltbilder“. Wie zu erwarten war, wird zunächst ein Bezug zum vermeintlichen „Geheimtreffen“ in Potsdam vor gut einem Jahr hergestellt (mit dem der VDS genauso wenig zu tun hatte wie z. B. der ADAC). Immer wieder geht es um Nähe zur AfD – als „Beweis“ kommt ein Hamburger AfD-Funktionär zu Wort, der auch Mitglied im VDS ist. Für die Schlussfolgerung des Journalisten irrelevant ist, dass mehrere VDS-Vorstandsmitglieder im Interview erklären, dass es Meinungsvielfalt im VDS gibt und dass politische Betätigung im Verein zum Ausschluss der Mitglieder führen kann. Journalist Link sieht den VDS als „Vorfeldorganisation“ der AfD, weil der Verein mit Verweis auf seine Überparteilichkeit auf eine Unvereinbarkeitserklärung mit der AfD verzichtet. Um die Sprache geht es nur selten in dem Beitrag, höchstens um einen „rechtspopulistischen“ Tonfall. Dass der VDS, eben weil er über den Parteien steht, in der Lage ist, Sprachkritik in der gesellschaftlichen Mitte zu verorten, sieht der Journalist nicht. (hoerspielundfeature.de)


5. Soziale Medien

Sportwetter:innen

Das Statistik-Unternehmen Statista hat bei X (vormals Twitter) für Lacher gesorgt. In einer Infografik zu Sportwetten schrieb es: „Sportwetter:innen setzen vor allem auf Fußball“. (x.com/reisburgerin)


Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug

Nicholas Houghton, Englisch-Lektor an der Augsburger Universität, hat als Nicht-Deutsch-Muttersprachler einen unverfänglichen Blick für die deutsche Sprache. Auf X hat er jetzt ein Bild aus einem Kinderbuch gepostet. Hier soll Kindern mit Klappen auf den verschiedenen Seiten gezeigt werden, wie die Feuerwehr arbeitet. Und obwohl Kinderbücher eigentlich eine einfache Sprache nutzen (sollten), um Kindern die Welt zu erklären, findet sich hier die Beschreibung dessen, was für die meisten Kinder wohl ein Feuerwehrauto ist: Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug. Da darf man wohl mit einem zwinkernden Auge fragen, wie das durch die Endkontrolle gekommen ist. (x.com/40PercentGerman)


6. Kommentar

Sehr geehrter Herr Link!

Erlauben Sie mir aus der Auslandsgermanistik eine Reaktion auf Ihre Doku vom 10.12. mit dem leicht mokanten Titel Mein Jahr unter Sprachrettern. Ironie ist ein wohlbekanntes Totschlagargument. Den Verein Deutsche Sprache aber für einen leichtgläubigen Haufen zu halten, scheint mir ungerecht. Klar, die akademische Germanistik gibt ungern ihr Monopol in sprachlichen Angelegenheiten aus der Hand. Die von Ihnen unterstrichene Nähe zur AfD und zu rückwärts gewandten Weltbildern bezeichne ich mal als billigen Schlag unter die Gürtellinie. Nicht wer sich um den Erhalt und die Pflege der deutschen Sprache (wie übrigens auch meiner Muttersprache Niederländisch) sorgt, ist der Naivling. Nicht die Hetze gegen das Fremdwort ist aus meiner Sicht die deutsche Krankheit, das Krebsgeschwür, sondern ganz im Gegenteil die Amerika-Schwärmerei, die damit einhergehende Katzbuckelei und der sprachliche Stumpfsinn. Die geschlechtergerechte Sprache, wie Sie das so schön arglos nennen, ist in Wirklichkeit ein Krieg gegen einen genialen Kunstgriff der deutschen (übrigens auch der englischen) Sprache, das geschlechtsunspezifische Maskulinum, und damit wohl auch, wie ich aus Ihrem Beitrag gelernt habe, gegen eine DDR-Reminiszenz. Ich jedenfalls bin nicht derjenige, der versuchen möchte, meinen belgischen Studenten die aus ihrer Sicht nervenaufreibende und ridiküle Genderakrobatik beizubringen. Ein VDS stünde jeder Kulturnation gut an. Uns, dem niederländischen Sprachraum, fehlt er leider. Ihre abschließende Frage beantwortend schließe ich mit einer Feststellung: Er wird in den deutschsprachigen Ländern jetzt erst recht gebraucht.

Prof. Dr. Roland Duhamel, Universität Antwerpen (B), 2. Vorsitzender des VDS


Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion wider.

Redaktion: Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke, Stephanie Zabel

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