Infobrief vom 5. August 2024: Patientenwohl geht vor

1. Presseschau

Patientenwohl geht vor

Eine Kinderarztpraxis in Kirchheim unter Teck (bei Stuttgart) sorgt mit einem Hinweisschild für Presserummel. Bis vor kurzem machte das Schild darauf aufmerksam, dass in der Praxis nur Deutsch gesprochen wird. Sollte eine Familie keinen Dolmetscher dabei haben, würde – außer bei Notfällen – die Behandlung abgelehnt. Der Kinderarzt Ulrich Kuhn verweist darauf, dass er immer häufiger Kinder und Eltern in der Praxis habe, die kein oder so gut wie kein Deutsch verstehen. So seien weder eine Behandlung noch eine Diagnose möglich. Auch eine rechtskonforme Aufklärung über Impfungen sei so nicht gewährleistet. „Beim Thema Impfung begehen wir jedes Mal eine kleine Körperverletzung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs und auch im Sinne des Strafgesetzbuchs. Wir müssen uns rechtlich absichern“, so Kuhn. Übersetzungs-Apps genügten nicht und würden auch zu viel Zeit beanspruchen.

In den sozialen Netzwerken gab es viel Kritik für das Vorgehen, in der Praxis selbst reagierten die Patienten positiv, berichtet Kuhn: „Eltern mit migrantischem Hintergrund haben nicht negativ reagiert, sondern die haben einfach umgesetzt, was wir wollten. Sie bringen jetzt Dolmetscher mit.“ (tagesspiegel.de, spiegel.de)


Jugendwort gesucht

Der Langenscheidt-Verlag sucht wieder das Jugendwort des Jahres. Zur Wahl stehen u. a. Talahon (es kommt aus dem Arabischen, bedeutet „komm her“ und bezeichnet junge Menschen mit Migrationshintergrund, die ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen), Hölle nein (Übersetzung von Hell, no!, steht für eine starke Ablehnung) und Aura (bezeichnet die persönliche Ausstrahlung bzw. den Status einer Person). Bis zum 3. September können junge Menschen abstimmen, anschließend werden die drei am häufigsten genannten Begriffe zur Wahl gestellt. Am 19. Oktober wird das Jugendwort 2024 verkündet. (langenscheidt.com)


Berliner Schulen auf Talfahrt

Fast jeder zweite Drittklässler in Berlin kann nicht richtig lesen und rechnen. Drei Viertel der Schüler an Gesamtschulen erreichen in Mathematik den Mindeststandard nicht. Damit haben die Ergebnisse des Vera-Vergleichstests einen neuen Tiefpunkt erreicht. 43 Prozent der Drittklässler haben beim Lesen und Hörverständnis nicht einmal den Mindeststandard erreicht. Noch schlechter war das Ergebnis der Achtklässler an Integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen. Im Mathetest scheiterten 74 Prozent an den Mindestanforderungen, beim Lesen 62 Prozent. Lediglich bei der Rechtschreibung gab es bessere Ergebnisse. Hier erreichte nur knapp ein Drittel (30 Prozent) das Mindestniveau nicht. An den Gymnasien sehen die Werte besser aus, aber auch hier konnte jeder Fünfte die einfachsten Aufgaben nicht meistern. Beim Lesen erlangten zwölf Prozent der Schüler das Mindestniveau nicht, in Rechtschreibung nur ein Prozent.

Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) nannte die Ergebnisse „nicht akzeptabel“. Sie setzt auf mehr Lesetraining nicht nur im Deutschunterricht. Auch die Unternehmen blicken besorgt auf die Vera-Ergebnisse, denn die Wirtschaft ist, wie sich der rbb ausdrückt, auf ordentlich ausgebildete Schulabgänger angewiesen. Für die Unternehmerverbände Berlin-Brandenburg seien die Vera-Ergebnisse ein „unüberhörbares Alarmzeichen“. (rbb24.de, mdr.de)


Medizinersprache entschlüsseln

Arztberichte und Arztbriefe geben Rätsel auf, die Patienten verstehen sie selten und sie machen ihnen oft mehr Angst als Aufklärung zu vermitteln. Seit Mai gibt es die App „DocToRead“ (in deutscher Sprache), sie soll Abhilfe schaffen, indem sie Arztberichte ins Verständliche übersetzt. Erfinder der App ist Bastian Hollmann, der seit 20 Jahren in der Radiologie und Strahlentherapie tätig ist. Begriffe wie „subchondrale Geröllzysten“ oder „retropatellare Chondropathie“ seien für Patienten unverständlich und seiner Erfahrung nach verließen Patienten nach einer solchen Diagnose das Krankenhaus mit „mehr Fragen als Antworten“.

In seiner Übersetzeranwendung können die Patienten ihre Arztbriefe einscannen und bekommen in weniger als zwei Minuten eine Übersetzung, die ihnen medizinische Fachbegriffe näherbringt. Es gebe noch einige kleine Fehler, zum Beispiel würden gelegentlich ganze Absätze weggelassen, auch „Zyste“ und „Polyp“ mochte die App nicht übersetzen. Dennoch empfiehlt die App auch Till Gaensicke, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie. Die mobile Anwendung kostet einmalig 3,99 Euro und wurde bis Ende Juli bereits 250 Mal heruntergeladen. (wdr.de)


Je mehr, desto besser

Die Logopädin Nathalie Frey gibt in ihrem Gespräch mit BuzzFeed News Deutschland einige wertvolle Tipps rund um die Sprachentwicklung bei Kindern. Frey befasst sich am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der Universität Würzburg mit der Therapie von Verzögerungen bei der Sprachentwicklung. Dass einige Kinder bereits mit neun Monaten ihr erstes Wort sprechen, während andere erst mit zweieinhalb Jahren sprechen, liege nicht nur an der Veranlagung des Kindes oder seiner individuellen Fähigkeit, es werde auch durch das Verhalten der Eltern beeinflusst. Frey rät dazu, häufig Gelegenheiten zum Gespräch und zum gemeinsamen Handeln zu schaffen.

Beim gemeinsamen Lesen eines Bilderbuches genüge es nicht, auf das Bild zu zeigen und abzufragen, wie man das Objekt oder das Tier nennt. Es könne auch beschrieben werden, und man könne fragen, was es tut oder wo man es findet. Diesen wichtigen Schritt bezeichnet die Logopädin als „Versprachlichung des Geschehens“. Kinder, die erst wenige Wörter beherrschen, können sich mit Gesten und Gebärden verständigen. Diese Methode wirke sich nicht nur günstig auf die Sprachentwicklung aus, sie stärke auch die Bindung zwischen Kind und „Bezugsperson“. (fr.de)


2. Gendersprache

Nach Bremen nun auch Bochum

Nachdem die Bremer FDP in der vergangenen Woche bereits die Forderung stellte, dass Gendersonderzeichen in Schulen und Verwaltung nicht mehr verwendet werden sollen, ziehen nun andere nach. Das Bündnis Deutschland im nordrhein-westfälischen Bochum reicht ebenfalls einen Antrag bei der kommenden Ratssitzung im September ein, demzufolge die Sonderzeichen aus allen offiziellen Schreiben, Formularen und den Internetauftritten der Verwaltung verschwinden müssen. Christian Krampitz vom Bündnis Deutschland erklärt, man wolle keine „Grundsatzdiskussionen“ auslösen sondern nur erreichen, dass die Vorgaben des deutschen Rechtschreibrates anerkannt und durchgesetzt würden. Dieser hatte bekräftigt, dass Sonderzeichen nicht zum Kernbestand der deutschen Orthographie zählen. (lokalkompass.de, faz.net (Bezahlschranke), welt.de (Bezahlschranke))


Genderformen analysiert

Der Spiegel hat den Deutschen Referenzkorpus des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim untersucht und dabei Millionen von Presseartikeln aus 2023 nach Genderformen durchleuchtet. Dabei stellten die Redakteure fest, dass Genderzeichen in journalistischen Texten nur sehr selten vorkommen. „Im Jahr 2023 enthielten nicht einmal 0,005 Prozent aller Wörter in 19 deutschen Medien Genderzeichen. Ohne die vielen Treffer aus der taz läge die Quote sogar unter 0,001 Prozent,“ schreibt Holger Dambeck. Stattdessen verwendeten Medien immer häufiger geschlechtsneutrale Formen (z. B. Lehrkräfte) oder Doppelformen (z. B. Bürgerinnen und Bürger). Das generische Maskulinum würde häufig vermieden.

Konservative Medien wie Welt oder Handelsblatt seien beim Gendern eher zurückhaltend und würden, wenn überhaupt, geschlechtsneutrale Formen vorziehen. Einen Unterschied gibt es beim Vergleich der Druck- und Internetausgaben. Auf Papier seien oft eher neutrale Formen zu lesen, in den Online-Versionen erschienen an gleicher Stelle oft Doppelformen. Besonders häuftig gendere die taz sowie die Frauenzeitschrift Brigitte, letztere vor allem mit Gendersternen. (spiegel.de (Bezahlschranke), derstandard.de)


3. Kultur

Plattdeutsch für die Kleinsten

Der Schweriner Dieter Sievers setzt sich ehrenamtlich für den Erhalt des Plattdeutschen ein und gibt seine Kenntnisse mit Stolz auch an jüngere Generationen weiter. In der Kita Schwerin-Warnitz lehrt Sievers, auch der „Plattdeutsch-Opa“ genannt, die Kleinen in einem Plattdeutschkurs. Für ihn sei es eine Herzensangelegenheit, denn er liebe nicht nur die Sprache, er sehe sich auch in der Verpflichtung, das Kulturgut Platt weiterzugeben. Der aktive Sprachgebrauch sei in den vorherigen Generationen vernachlässigt worden, da in der Schule, im Fernsehen und in den Zeitungen nur Hochdeutsch vorzufinden war.

Die Förderung der Regionalsprache betreibt der 70-Jährige nicht nur in der Kita, Sievers ist inzwischen auch Mitglied im Heimatverband und beteiligt sich jedes Jahr an der Suche nach dem schönsten plattdeutschen Wort. In seinem Plattdeutschunterricht übt er mit den Kindern erste kleine Sätze und sucht sie zu überzeugen, dass Plattdeutsch auch lustig sein kann. Im Alltag helfe nur Üben, er ermuntere die Kinder immer wieder dazu, die Sprache zu nutzen. (nordkurier.de)


Youtube-Promi in Erklärungsnot

MrBeast ist auf der Videoplattform Youtube für seine Philanthropie bekannt. In seinen aufwendig produzierten Videos verschenkt MrBeast, dessen echter Name Jimmy Donaldson ist, Häuser, spendet Geld an Bedürftige oder fördert Schulen in Afrika und Südamerika. Kritiker werfen ihm nun rassistische Kommentare in der Frühphase seiner Online-Aktivitäten vor. Ein Sprecher Donaldsons verteidigt den 26-Jährigen und erklärt, dass Donaldson in seinen Jugendjahren „unangemessene Ausdrücke“ benutzte, da er „versuchte, lustig zu sein“. Diese Art von Ausdrucksweise sei verbreitet unter Kindern und Donaldson habe sich im Laufe der Jahre bereits mehrfach entschuldigt, er gehe nun „bewusster und sensibler mit der Macht der Sprache“ um. MrBeast hat durch seine Großzügigkeit und seinen Einfallsreichtum bereits über 300 Millionen Abonnenten auf Youtube. (rnd.de)


4. Berichte

Hamburger Bürger gegen Gendersprache wahlberechtigt

Das Hamburger Volksbegehren „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ hat begonnen: Seit dem 18. Juli können es die Hamburger Bürger auf dem amtlichen Formblatt für die Briefunterstützung unterschreiben. Ab dem 8. August werden zusätzlich Unterschriften auf amtlichen Listen gesammelt. Bis spätestens 28. August 2024 müssen mindestens 66.000 gültige Unterschriften vorliegen, damit der Senat gezwungen ist, einen Volksentscheid über die Abschaffung von Gendersprachformen in Schulen und Verwaltung durchzuführen. Der VDS unterstützt das Volksbegehren in Hamburg und die verantwortlichen Vertrauenspersonen Dr. Jens Jeep, Dr. Hans Kaufmann und Anja Oelkers. Wahlberechtigte aus Hamburg können bereits jetzt die Unterlagen zur Abstimmung per Briefwahl hier anfordern: hamburg.de

VDS-Mitglieder bundesweit können helfen, indem sie ihnen bekannte Hamburger auf die Abstimmung hinweisen. (ohne-gendern.de)


Aus dem Roman „Salz & Eisen“

Es gibt Neues zu dem Roman „Salz & Eisen“ über den heute fast vergessenen Bürgerkrieg im Frühjahr 1920 an der Ruhr. Der Kamener Autor Horst Hensel stellt das Buch am 5. September 2024 (19:30 Uhr) in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund vor. In einem über den Netzauftritt des IFB-Verlags abrufbaren Kurzfilm stellt Horst Hensel einige der damaligen Schauplätze vor, die auch in seinem Werk eine Rolle spielen. (ifb-verlag.de)


5. Denglisch

Woher kommt der Anglizismus binge?

Der Buchautor und Englisch-Experte Peter Littger, der beim Stern „Wordsplainer“ genannt wird, erklärt die Herkunft des englischen Wortes „binge“ (gesprochen: „bindsch“), welches besonders in der Jugendsprache vorkommt mit der Bedeutung: etwas (suchtartig, wie im Rausch) exzessiv am Stück konsumieren. Das Wort ist gleichbedeutend mit dem englischen to binge. Littger sucht aber noch etwas ausführlicher in der englischen Wortgeschichte: Im englischen Dialekt in der Grafschaft Yorkshire ist binge im 19. Jahrhundert mit der Bedeutung „Behälter“ aufgeführt. In anderen Regionen Großbritanniens stand das Wort für das „Aufquellen von Holzschiffen“ durch Wasser. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Bedeutung „triefnass“ und bis zu dem heute häufig verwendeten Wort für „Saufgelage“, welches seinen Weg nun auch ins Deutsche gefunden hat – neben der Bezeichnung „Binge-Watching“ für maßlosen Medienkonsum, das seit 2020 sogar im Duden verzeichnet ist. (stern.de)


6. Soziale Medien

Wir können auch Jugendsprache!

Yo, ihr Babos! Chillt eure Base und hört, wie der Vorstand lit Jugendsprache talkt. Sheesh! (facebook.com/vds oder instagram.com/vds)


Schwarmwissen

Per E-Mail erreichte die VDS-Geschäftsstelle die Anfrage zu einem alten Kindervers, ähnlich dem „Hoppe Hoppe Reiter“. Der Absender erinnerte sich nur an Bruchstücke, sein Urgroßvater sei Bergmann im Ruhrgebiet (Bochum-Altenbochum) gewesen und habe es gesungen. Leider kenne niemand aus der Familie die volle Strophe, und der Absender selbst wollte sie seinen Enkeln weitergeben. Die Anfrage an das Schwarmwissen der Facebook-Gemeinde war nach nur kurzer Zeit von Erfolg gekrönt. Ein Nutzer aus Essen präsentierte gleich zwei Versionen in einem Platt, das in Essen-Werden bekannt sein soll (Waddisch-Platt). (facebook.com/vds)


Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion wider.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke, Jeanette Zangs

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