Infobrief 435 (41/2018): Sind Wahlprogramme lesbar?

1. Presseschau vom 5. bis 11. Oktober 2018

  • Sind Wahlprogramme lesbar?
  • Deutsch in der Wallonie
  • Integration der Deutschen in Amerika
  • Namhafte Politiker

2. Unser Deutsch

  • EingeschlĂ€fert

3. Berichte

  • Lehrer-Welsch-Preis

4. VDS-Termine

5. Literatur

  • Deutscher Buchpreis
  • Mehrsprachigkeit im Krimi

 

1. Presseschau vom 5. bis 11. Oktober 2018

Sind Wahlprogramme lesbar?

Bild: © pixabay.com / Humusak | CC0-Lizenz

Dieser Frage widmet sich eine erneute Studie der UniversitĂ€t Hohenheim. Was meinen die GrĂŒnen mit Haltungskennzeichnung, oder die CSU mit Smart- und BĂŒrgerbussen, was meint die AfD mit Vergemeinschaftung, oder die Linke mit Selbstvertretungsorganisationen, und wenn die SPD von energetischer Sanierung, die FDP von der Bildungskette und dem SachaufwandstrĂ€ger spricht? Kann der Leser ihre Wahlprogramme noch wĂŒrdigen? Fachbegriffe behindern das VerstĂ€ndnis, das ist nichts Neues. Auch die in allen Parteien offenbar unersetzbaren Anglizismen sind zu glatt, um noch ernstgenommen zu werden: Smart Grids, Fast Lanes, Share Deals, Learning Management Systeme, Gender Mainstreaming, Gender Budgeting oder Teamteaching. LĂ€ngst ist bekannt, dass auch bĂŒrokratisch zusammengestoppelte Wörter die Konzentration der Leser aufweichen, zumal so verdauliche wie die AllgemeinverbindlichkeitserklĂ€rung, die Abschiebehafteinrichtung und der Finanzkraftstrukturausgleich, womöglich noch als Bestandteil von Satz-UngetĂŒmen mit mehr als 40 Wörtern.

Wie gut ein Text zu verstehen ist, lÀsst sich mit einem Textanalyseprogramm ermitteln. Das Ergebnis ist ein Zahlenwert auf der Skala des Hohenheimer VerstÀndlichkeitsindex. Zum Vergleich dienen Doktorarbeiten in Politikwissenschaften, sie erreichen im Durchschnitt den Wert 4,3, sowie Hörfunk-Nachrichten mit erfreulichen 16,4 Punkten. Wie schon bei der bayerischen Landtagswahl 2013 und bei der Europawahl 2014 hat die CSU auch zur Landtagswahl 2018 das sprachlich mit Abstand verstÀndlichste Wahlprogramm vorgelegt, sagt der Leiter der Studie, Prof. Dr. Frank Brettschneider. Den höchsten Wert der aktuellen Untersuchung erreichte sie (12,8 von 20), den niedrigsten die AfD (6,2). Welchen Wert die CDU erreicht hÀtte, lÀsst sich im bayrischen Wahlkampf nicht ermitteln. (idw-online.de, focus.de, deutschlandfunk.de)

 

Deutsch in der Wallonie

In Belgien findet am 17. Oktober erstmals ein Tag der deutschen Sprache statt. Dann will der wallonische MinisterprĂ€sident Willy Borsus gemeinsam mit seinem deutschsprachigen Amtskollegen Oliver Paasch SchĂŒler empfangen, die Immersionsschulen besuchen oder an Austauschprogrammen teilnehmen. Deutschsprachige Politiker des Parlaments in Namur sollen dazu ermutigt werden, in der Plenarsitzung ihre Muttersprache zu gebrauchen; und, beginnend mit diesem Anlass, soll die Rubrik Praktische Informationen des vierteljĂ€hrlichen Magazins Vivre la Wallonie kĂŒnftig dauerhaft ins Deutsche ĂŒbersetzt werden. (grenzecho.net)

 

Integration der Deutschen in Amerika

In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur berichtete Michael Hochgeschwender, Professor fĂŒr nordamerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t MĂŒnchen, anlĂ€sslich des German-American-Day, also des Tages der Deutschamerikaner, ĂŒber die deutschen Einwanderer Amerikas im neunzehnten Jahrhundert. Der grĂ¶ĂŸte Teil sei zwischen 1841 und 1890 wegen Missernten und der Börsenkrise 1873 aus wirtschaftlichen GrĂŒnden nach Amerika ausgewandert. Dort haben die Deutschen bis zur dritten Generation nach Einwanderung hĂ€ufig in einer Art Parallelgesellschaft gelebt, Deutsch gesprochen, eigene Zeitungen herausgegeben, und ihre Gottesdienste erlebten sie auf Deutsch. Das habe sich erst in langwierigen Prozessen der Anpassung und Integration durch das bĂŒrgerliche Miteinander geĂ€ndert. Benjamin Franklins These, die Deutschen seien „nicht integrierbar“, wurde widerlegt. Einige Gruppierungen, wie die Hutterer und die Amischen, lebten jedoch bis heute abgegrenzt und sprĂ€chen einen halbwegs verstĂ€ndlichen pfĂ€lzischen Dialekt, so Hochgeschwender, der nebenbei die Muhlenberg-Legende als Verdrehung der Tatsachen, als fake news entlarvt; ihr zufolge soll Deutsch als Landessprache der USA zur Debatte gestanden haben. TatsĂ€chlich ging es nur im Bundesstaat Virginia lediglich darum, ob Gesetze ins Deutsche ĂŒbersetzt werden sollten, um sie fĂŒr die Einwanderer zugĂ€nglich zu machen. (deutschlandfunkkultur.de)

 

Namhafte Politiker

Zwar gehört die Sprache zum Handwerkszeug des Politikers, aber nicht alle Politiker machen sich mit gutem Deutsch einen Namen. Erfreuliches Beispiel ist Norbert Lammert, der im vergangenen Jahr mit dem Kulturpreis Deutsche Sprache ausgezeichnet wurde. Im kollektiven GedĂ€chtnis der Ă€lteren BĂŒrger lebt der ehemalige BundesprĂ€sident Heinrich LĂŒbke; allerdings sind viele der ihm nachgesagten Satzverdrehungen frei erfunden.

JĂŒrgen Udolph betrachtete jetzt Wörter, die Politikern ohne ihr eigenes Zutun anhaften: Wer seinen Namen nicht freiwillig erheiratet, erbt ihn von seinen Eltern. Der Namensforscher untersuchte die Namen einiger Politiker. Merkel bedeute etwa kleiner, sĂŒĂŸer Markwart, von der Leyen sei nicht adelig, sondern habe darauf verwiesen, wo jemand herkam, nĂ€mlich von einer Ley genannten Stelle. Dies sei ein rheinisches Wort fĂŒr Schiefer. Gregor Gysis Nachname verweist Udolph zufolge auf jemanden, der gut mit Pfeil und Bogen umgehen kann. Der Name ist Programm? (de.sputniknews.com)

 

2. Unser Deutsch

EingeschlÀfert

Fritz, der Ă€lteste Gorilla in einem Zoo, im NĂŒrnberger Zoo, musste eingeschlĂ€fert werden. Musste? Ja, er hatte furchtbare Schmerzen, konnte sich kaum mehr rĂŒhren, fraß nicht mehr, war fĂŒr einen Affen uralt. Der Tod als Erlösung. Allerdings nicht freiwillig.

EinschlĂ€fern, was ist das? Eine Spritze, und der Tod tritt ein. Das Wort ist ein Euphemismus. Der Schlaf, ein ‚Bruder des Todes‘, steht fĂŒr diesen selbst. Aber einschlĂ€fern ist nicht ‚in den Schlaf begleiten’ wie ein Kind mit einem liebevollen Schlaflied, es meint den Schlaf in den Tod, einen gewaltsamen.

Schade, dass wir das bei Menschen nicht dĂŒrfen, war der Kommentar einer Frau, die ihren todkranken Mann bis zu seinem natĂŒrlichen Lebensende pflegen musste. Bei Menschen nennt man es Euthanasie, ‚guter Tod‘, die Übersetzung ein anderer Euphemismus. FĂŒrchterlich dagegen der Missbrauch: die Ermordung psychisch Kranker durch Nazi-Mediziner und ihre Gehilfen, dieser unmenschliche SĂŒndenfall der Psychiatrie. Es war geplanter Massenmord, getarnt als Aktion T4 (nach der Berliner Tiergartenstraße 4, dem Hauptsitz der Aktion). Davon grenzt sich die Sterbehilfe ab, die den Willen des Sterbenden vollzieht. Sprache vertuscht, beschönigt, verfremdet das Unsagbare.

TierĂ€rzte sagen den besorgten Herrchen und Frauchen ihrer schwer erkrankten Tiere, eine Heilung sei langwierig, wohl garnicht möglich und teuer – ob nicht besser Erlösung vom Leiden?
Auch Fritz wurde eingeschlĂ€fert, vom Tierarzt des Zoologischen Gartens. HĂ€tte man ihn nicht auch, mit schmerzlindernden Medikamenten, einfach natĂŒrlich sterben lassen können? Wurde das erwogen? Ist es ĂŒberhaupt möglich? Je mehr viele Tiere zu geliebten Begleitern des Menschen werden, umso mehr gelten menschliche MaßstĂ€be auch fĂŒr sie. Wir geben ihnen menschliche Namen, wie Fritz fĂŒr den berĂŒhmten NĂŒrnberger Gorilla. Darum bekommen wir ein schlechtes Gewissen, wenn einschlĂ€fern die letzte Hilfe ist.

Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor fĂŒr Germanistische Sprachwissenschaft an der UniversitĂ€t Erlangen-NĂŒrnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. ErgĂ€nzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de

 

3. Berichte

Lehrer-Welsch-Preis

Fast einen Monat nach der Preisverleihung am 16. September fand ein Bericht ĂŒber den Lehrer-Welsch-Preis noch den Weg in die Presse. Der Kölner Wochenspiegel berichtete ĂŒber die Feierstunde, bei der die Regionalgruppe 51 des VDS Wicky Junggeburth mit dem Preis ehrte. Die Jury hatte er durch sein Engagement fĂŒr die leisen Töne des Karnevals ĂŒberzeugt. Pikant war die Einladung von Christoph Kuckelkorn (PrĂ€sident des Festkomitees des Kölner Karnevals) als Laudator, denn dieser wurde von derselben Jury bereits als SprachtĂŒnnes des Jahres ausgezeichnet, ein Negativpreis, auf den er mit Genugtuung hinwies. Er hob den PreistrĂ€ger als echtes Original und als Archivar des Kölner Karnevals hervor. Laut einem Augenzeugen hat die Verwendung einiger Anglizismen die fröhliche Stimmung im Saal nicht gestört. DafĂŒr sorgte eine ĂŒberzeugende Reihe Kölner MundartsĂ€nger: Der Dialekt der Domstadt macht Freude. (rheinische-anzeigenblaetter.de)

 

4. VDS-Termine

13. Oktober, Region 34 (Kassel)
Verleihung des Kulturpreises Deutsche Sprache an Die Fantastischen Vier, die Kampagne Sprechen Sie lieber mit Ihrem Kind des Netzwerks FrĂŒhe Hilfen des Jugend- und Sozialamtes der Stadt Frankfurt am Main und das Bundessprachenamt fĂŒr seine vorbildliche Arbeit in der Sprachausbildung im Bereich Deutsch als Fremdsprache.
Zeit: 16:00 Uhr
Ort: Kongress Palais, Holger-Börner-Platz 1, 34119 Kassel

18. Oktober, Region 70, 71, 73, 74 (Stuttgart, NordwĂŒrttemberg)
Regionalversammlung
Zeit: 19:00 Uhr
Ort: BrauereigaststĂ€tte Dinkelacker, TĂŒbinger Straße 46, 70178 Stuttgart

 

5. Literatur

Deutscher Buchpreis

Der mit 25.000 Euro dotierte Deutsche Buchpreis 2018 des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels geht an Inger-Maria Mahlke fĂŒr ihren Roman Archipel. Sie erzĂ€hlt das Schicksal dreier Familien aus unterschiedlichen Klassen auf der Kanareninsel Teneriffa. Darin verdichteten sich die Geschichte der Kolonien und der europĂ€ischen Diktaturen im 20. Jahrhundert, hob die Jury hervor. Sie lobte die schillernden Details, die das Buch zu einem eindrĂŒcklichen Ereignis werden ließen. (augsburger-allgemeine.de, zeit.de)

 

Mehrsprachigkeit im Krimi

Am 18. Oktober lĂ€uft bei ARTE Teil zwei des paneuropĂ€ischen Krimi-Filmprojektes The Team. SpĂ€ter soll die Serie in der Originalfassung in der Mediathek verfĂŒgbar sein. Diese nicht synchronisierte Version verspricht eine seltene Fernsehfreude, versichert Schauspieler JĂŒrgen Vogel im Interview mit prisma. In Deutschland sei man es, anders als in anderen LĂ€ndern, gewohnt, Filme und Serien in der deutschen Fassung zu sehen. Dabei geht verloren, dass im Film acht verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Schwierigkeiten der VerstĂ€ndigung in einem Ermittlerteam aus mehreren LĂ€ndern, das gemeinsam zum Ziel kommen soll, bleiben unerkannt. Sprachbarrieren werden so glattgebĂŒgelt und die Beziehungen der Figuren, die durch die erschwerte VerstĂ€ndigung mitgeprĂ€gt werden, wirken weniger intuitiv. Die Figuren gebrauchen immer die der Situation angepasste Sprache. Sind flĂ€mische Muttersprachler unter sich, wird NiederlĂ€ndisch gesprochen. UnterhĂ€lt sich der deutsche Ermittler (Vogel) mit der dĂ€nischen und der belgischen Kollegin, weichen sie auf das ihnen fremde Englisch aus. Wer Freude an Sprachen hat, kann sich einmal die MĂŒhe machen und in der Mediathek den Originalton mit Untertitel wĂ€hlen. (prisma.de)

 


Der VDS-Infobrief enthĂ€lt Neuigkeiten und Nachrichten der vergangenen Woche zur deutschen Sprache. Namentlich gekennzeichnete BeitrĂ€ge mĂŒssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln. Alle Geschlechter werden im Infobrief gleich behandelt. Wo nicht anders gekennzeichnet, sind MĂ€nner mitgemeint.

RECHTLICHE HINWEISE
Verein Deutsche Sprache e. V. Dortmund
Redaktion: Oliver Baer

© Verein Deutsche Sprache e. V.

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