Infobrief Nr. 476 (31. Ausgabe in diesem Jahr)

1. Presseschau

Ohne Deutschkenntnisse in der Grundschule

Bild: pixabay / picjumbo_comPixabay-Lizenz

Die Diskussion um die Aussagen des CDU-Politikers Carsten Linnemann zeigt: Wir sind im medialen Sommerloch angelangt. Da vergreift sich einer im Ton und schon brausen die Stürme der Entrüstung. Linnemann fordert, dass Kinder, die kaum Deutsch können, vor der Einschulung besonders gefördert werden. Unstrittig ist, das würde den Kindern helfen und die Lehrkräfte entlasten. Ohne gezielte Förderung und qualifiziertes Personal ist es für nicht-muttersprachliche Kinder viel schwieriger, Deutsch zu lernen. So nebenher im ersten Schuljahr oder im Kindergarten gelingt das jedenfalls nicht.

Dass diesen Kindern die Grundschule verwehrt bliebe, hatte zwar keiner vorgeschlagen, wurde jedoch in den Medien als eine üble Idee scharf kritisiert. Es handle sich um Stigmatisierung, wenn vor der Einschulung getestet wird, ob die Deutschkenntnisse für die Grundschule ausreichen. Als ob es umgekehrt keine Stigmatisierung wäre, wenn die Betroffenen im Unterricht gar nicht erst zurechtkommen? Selbstverständlich müssen solche Tests für alle Kinder gelten, und die Vorschulklassen müssen verpflichtend sein, wenn die Mindestanforderungen nicht erreicht werden – ob mit Deutsch als Muttersprache oder nicht.

Übrigens gibt es solche Sprachstandserhebungen bereits in einigen Bundesländern. In Sachsen-Anhalt und Brandenburg werden Kinder eineinhalb Jahre vor der Einschulung überprüft, in Berlin bis zu zwei Jahre vor der Einschulung. Im SPD-regierten Hamburg besuchen 60 Prozent der Kinder eines Jahrgangs eine Vorschulklasse, bevor sie regulär eingeschult werden, die meisten davon freiwillig. (sueddeutsche.de, tagesschau.de)


Schweizer Sprachschätze

Die Schweiz komme in den Veröffentlichungen des Vereins Deutsche Sprache e. V. zu wenig vor, heißt es gelegentlich. Das täte uns leid, jedenfalls ist es keine Absicht. Mit besonderem Vergnügen reichen wir hier einen Artikel über den Sprachschatz des Schweizer Alltags aus der Neuen Zürcher Zeitung nach. Rund 3.500 Helvetismen gehören zur deutschen Standardsprache und erhalten im Rechtschreibduden den Zusatz „schweiz.‟ Der Schweizerische Dudenausschuss prüft für jede Neuausgabe, wie viele Wörter hinzukommen. Bei der letzten waren es rund 500, darunter kreuzfalsch, Interessenbindung und Rechtsrutsch. Die NZZ verurteilt es, wenn Universitäten die schweizerischen Wörter aus ihren Veröffentlichungen verbannen und Helvetismen als minderwertig und provinziell brandmarken. „Als die Schweiz vor über hundert Jahren die deutsche Einheitsschreibung übernahm, tat sie es im Bewusstsein, dass die Vielfalt weiterhin zu pflegen ist.‟

Solche Pflegeversuche können auch zu Tränen des Lachens rühren, wie eine liebenswerte und längst legendäre Rede des Nationalrats Hans-Rudolf Merz über einen Zolltarif eindrucksvoll zeigt. (nzz.ch, youtube.com)


Indigene Sprachen bedroht

Immer mehr Sprachen von Ureinwohnern gehen verloren. Insgesamt gibt es etwa 7.000 Sprachen auf der Welt, darunter ungefähr 4.000 indigene Sprachen. Die meisten sind bedroht, zum Beispiel die samischen Sprachen in den skandinavischen Ländern oder Atikamekw in der kanadischen Provinz Québec. Das Problem sieht die Gesellschaft für bedrohte Völker darin, dass die Sprachen meist nur mündlich überliefert und nicht in der Schule gelehrt werden. Ihre Sprecher werden vielerorts diskriminiert. Deshalb erziehen Eltern ihre Kinder bevorzugt in der Mehrheitssprache, um ihnen bessere Bildungs- und Aufstiegschancen zu ermöglichen. Die Vereinten Nationen haben 2019 zum Jahr der indigenen Sprachen ausgerufen, um ihrer Vielfalt und Schutzbedürftigkeit Aufmerksamkeit zu verschaffen. (br.de, evangelisch.de)


Neues Wappen

Das Wappen der königlichen Familie in Belgien wird neu gestaltet. Neu daran ist, dass das Motto „L’union fait la force“, das bisher nur auf Französisch auf dem Wappen stand, nun auch auf Niederländisch („Eendracht maakt macht“) und Deutsch („Einigkeit macht stark“) erscheinen soll. Für die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien ist das ein besonderer Ausdruck der Wertschätzung, so ihr Ministerpräsident Oliver Paasch. Übrigens ist diese Gemeinschaft korporatives Mitglied im VDS; für ihren Einsatz für die deutsche Sprachminderheit in Belgien hat sie 2009 den Institutionenpreis Deutsche Sprache bekommen. (grenzecho.net)


Juristenweichware kann kein Deutsch

Das Besondere elektronische Anwaltspostfach solle eine qualifizierte elektronische Kommunikation zwischen Anwälten, Gerichten und Staatsanwaltschaften ermöglichen, erläutert Golem (IT-News für Profis). Die von der Firma Atos entwickelte Weichware glänzt mit einer knallharten Besonderheit: Sie kann mit deutschen Umlauten und Sonderzeichen nicht umgehen. Die Auswirkungen seien erheblich. Es kann geschehen, dass eine als „zugestellt“ bestätigte Nachricht eben doch nicht zugestellt wurde. Nicht schlimm? Doch, es kommt noch dicker: Dem Absender wird jedoch die erfolgreiche Zustellung bestätigt, daraufhin können Fristen verpasst werden ­– ein teurer Spaß.

Ein Schelm, wer Boeses dabei denkt: Wurde diese Juristenweichware – man weisz ja nie – in der vorauseilenden Annahme gebaut, dass Deutsch sowieso bald keiner mehr benoetigt? Wo Englisch doch so viel praktischer ist, es kommt mit weniger Buchstaben aus? Dann haetten wir hier mal ein huebsches Beispiel, dass es vielleicht doch nuetzlich gewesen waere, Deutsch als Sprache festzuschreiben. (golem.de)


2. Unser Deutsch

Leibspeise

Eine Kochsendung hat das Wort wieder geläufig gemacht: Die Leibspeise ist ein ‚Lieblingsessen‘, das sich jemand immer wieder wünscht. Die Mutter, die Großmutter kocht es grad für ihn, für sie. Es ist nichts Großartiges, vielleicht der Schweinsbraten, ein Bauernfrühstück, Rote Grütze, Grüne Sauce. Aber, so fragen wir: Warum heißt es Leibspeise? In den Leib kommt doch alles, was wir verzehren.

Das Rätsel löst sich vielleicht, wenn wir auf ein anderes Wort mit Leib– sehen: den Leibarzt, einen ‚Arzt für Höhergestelle‘, für Fürsten und Könige. Auch Diktatoren können ihn nicht entbehren. Wir wissen das von Theo Morell, dem Leibarzt des ‚Führers‘. Am bekanntesten ist – auch dank vielfältiger literarischer Bearbeitung – Johann Heinrich Struensee, der Leibarzt (und Liebhaber) der dänischen Königin Caroline Mathilde. Leibärzte sind ausgewählte Vertraute, nur für einen Patienten zuständig.

Bleibt zu erklären, warum sie Leibarzt heißen. Hier hilft die Wortgeschichte. Ursprünglich unterschied man zwei Arten von Medizinern: den Leibarzt und den Wundarzt. Der eine war für den Leib, also die inneren Krankheiten zuständig, wir nennen ihn heute Internist. Der andere war für alle Unfälle des Alltags zuständig. Das macht heute ein guter Allgemeinarzt oder der Unfallarzt. Als Feldscher (ursprünglich der Barbier) hatte er die Verletzten der Kriege zu versorgen. „Leibärzte braucht man nur selten, Wundärzte jeden Augenblick“ rät Goethe in Vorbereitung der Reise Anna Amalias. Einen Leibarzt, nur für sie allein, konnten sich nur die Hochgestellten leisten. Für sie war er der beste, der liebste Arzt. Dieser Bedeutungsaspekt von Leib- findet sich auch im Wort Leibwächter. Er heißt so, weil er speziell eine Person bewacht. Und auch die Leibspeise, die Speise, die einem Menschen besonders schmeckt, die er vor allem liebt unter allen Gerichten, mag daher ihren Namen haben. Dass sie dem Leib besonders wohltut, ist bloß eine volksetymologische Deutung.

Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de

3. Kultur

Toni Morrison ist tot

1993 erhielt sie als erste afroamerikanische Frau den Literaturnobelpreis. Toni Morrison, die zu den weltweit wichtigsten Schriftstellerinnen der Geschichte der USA gezählt wird, starb am Montagabend im Alter von 88 Jahren. Mit einer Mischung aus Wut und Mitgefühl schrieb Morrison über die Sklaverei und Rassismus in den Vereinigten Staaten. Ihr erster Roman Sehr blaue Augen aus dem Jahr 1970 handelte von einem schwarzen Mädchen, das jeden Abend um sehr blaue Augen betet, weil sie glaubt, dass sich ihr Leben endlich zum Positiven verändern würde, wenn sie doch nur eine hellhäutige, blonde und blauäugige Schönheit wäre. Morrison erzählte gerne, dass es das Buch war, das sie immer habe lesen wollen, das es aber noch nicht gab – bis sie es schrieb. Neben dem Schreiben machte sie eine erfolgreiche akademische Karriere und unterrichtete unter anderem an der Howard-Universität, in Yale und in Princeton. (sueddeutsche.de, dw.com)


Musiker außer Konkurrenz

Nach mittlerweile 16 Studioalben und 44 Jahren Bandgeschichte steht die Gruppe Pur immer noch auf der Bühne. Als die Mitglieder mit 15 Jahren anfingen, Musik zu machen, schrieben sie ihre Texte auf Englisch. Später merkte Hartmut Engler, der Sänger der Band: „Die Leute verstehen mich nicht“, und machte von dort an weiter mit deutschsprachiger Musik. Dass Deutsch nicht beliebt war, störte die Gruppe nicht. So wie heute machte Pur schon damals Musik aus Freude, nicht für ihr Marketing oder um irgendwem zu gefallen. „Musik als Konkurrenz, also jemanden zu beurteilen“, erzählt Engler, „ist mir so was von fremd.“ Die Gruppe wurde schon oft für Wettbewerbe wie den Eurovision Song Contest angefragt, sagte jedoch immer ab, sie sah darin keinen Sinn. (schwarzwaelder-bote.de)


4. Berichte

Sprachniveau von Jugendlichen

VDS-Vorstandsmitglied Jörg Bönisch kritisiert in der Recklinghäuser Zeitung vom 29.7. das Sprachniveau von Jugendlichen. „Viele Schüler können sich heute, wenn sie die Schule verlassen, nicht angemessen mündlich und schriftlich ausdrücken‟, so Bönisch. Gründe sind für ihn der Lehrermangel, sinkende Ansprüche im Unterricht und übermäßiger Medienkonsum.

Carsten Taudt, Bereichsleiter Bildung von der IHK Nord-Westfalen, stimmt ihm zu: 60 Prozent der Betriebe in Nord-Westfalen hätten bei einer Befragung Mängel im schriftlichen und mündlichen Ausdrucksvermögen ihrer Auszubildenden genannt. „Das rangiert noch vor Eigenschaften wie Belastbarkeit und Leistungsvermögen.‟

Zu Wort kommt auch Helke Waterfeld, Leiterin des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums Recklinghausen: „Das Sprachniveau bei Kindern und Jugendlichen lässt seit 15 Jahren nach.‟ Sie stellt fest, dass Eltern ihren Kindern weniger vorlesen und insgesamt weniger Bedeutung auf eine korrekte und ordentliche Schreibweise gelegt wird.“


5. Denglisch

„Let the church in the village‟

Das ruft Ulrich Vollmer den Denglisch-Liebhabern seiner Heimatregion Siegerland in einem vierspaltigen Leserbrief zu. Vollmer sieht in der Presse und auf Plakaten eine neue Welle von Anglizismen auf sich zukommen: Ein Hotel nennt sich „Boarding House‟, Siegener Bankangestellte präsentieren ihre neue „Business Casual Wear‟ und eine Nichtraucheraktion für Schüler trägt den Titel „Be smart – don‘t start!‟. Sein Ratschlag: „Lieber Hochdeutsch mit Knubbeln (Sejerländer Platt) als Denglisch.“


Missglückte Konstruktion

Der Live-Blog der Goslarschen Zeitung spießt eine Meldung aus der ARD-Audiothek zu den Olympischen Spielen 2020 in Tokio auf. Darin wird der Olympia-Podcast der ARD vorgestellt, der bereits jetzt Geschichten über die Sportler auf ihrem Weg zur Olympia-Teilnahme erzählt. „Go To Tokio To Go‟ soll diese Sendung, wohlgemerkt für deutsche Zuschauer, ­­heißen. Finden Sie das einzige nicht englische Wort? Der VDS hatte die Denglisch-Neigung in der Sportberichterstattung bereits häufiger im Auge. Zu Olympia 2020 wird es wohl wieder Arbeit geben. (live.goslarsche.de)


6. VDS-Termine

12. August, Region 65 (Wiesbaden/Kelkheim)
Mitgliedertreffen
Zeit: 19:00 Uhr
Ort: Restaurant Europa, Stadthalle Kelkheim, Gagernring 1, 65779 Kelkheim (Taunus)

12. August, Region 20, 22 (Hamburg)
Mitgliedertreffen
Zeit: 19:30 Uhr
Ort: Hotel Ibis Alsterring, Pappelallee 61, 22089 Hamburg

14. August, Region 97 (Würzburg)
Mitgliedertreffen
Zeit: 18:00 Uhr
Ort: Am Stift Haug, Textorstraße 24, 97070 Würzburg

22. August, Region 42 (Wuppertal, Remscheid, Solingen)
Mitgliedertreffen
Zeit: 17:15 Uhr
Ort: Gaststätte Kaiser-Treff, Hahnerberger Str. 260, 42329 Wuppertal-Cronenberg

24. August, Region Österreich (Wien)
Stammtisch des Jungen VDS
Zeit: 20:00 Uhr
Ort: Café Ritter am Ottakring, Ottakringer Str. 117, 1160 Wien

28. August, Region 03 (Cottbus)
Mitgliederversammlung
Zeit: 18:00 Uhr
Ort: Hotel „Zur Sonne“, Taubenstraße 7, 03046 Cottbus

29. August, Region 18 (Rostock)
Mitgliedertreffen
Zeit: 18:00 Uhr
Ort: Gasthaus „Zum Bauernhaus Biestow“, Am Dorfteich 16, 18059 Rostock

6. September, Region 48 (Münsterland)
Infostand auf dem Wochenmarkt
Zeit: 08:00 – 12:00 Uhr
Ort: Wochenmarkt Saerbeck, Marktstraße, 48369 Saerbeck

6. September, Region 53 (Bonn, Vor-Eifel und Siebengebirge)
Mitgliedertreffen
Zeit: 18:00 Uhr
Ort: Tennis-Club Heiderhof, Sommerbergweg 4, 53177 Bonn

7. September: Tag der deutschen Sprache

Region 48: Münsterland
Infostand auf dem Wochenmarkt in Emsdetten
Zeit: 8:00 – 13:00 Uhr
Ort: Am Brink, 48282 Emsdetten

Region 67, 68, 69: Rhein-Neckar
Infostand auf dem Mannheimer Paradeplatz
Zeit: 10:00 – 16:00 Uhr
Ort: Quadrat N1, nahe Eingang Hauptost, Mannheim

IMPRESSUM

Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten der vergangenen Woche zur deutschen Sprache. Männer sind mitgemeint, die anderen Geschlechter auch. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln mitunter die Meinung der Redaktion.

Redaktion: Holger Klatte, Alina Letzel, Oliver Baer

© Verein Deutsche Sprache e. V.

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