Infobrief vom 1. Juli 2024: Literatur darf böse sein

1. Presseschau

Literatur darf böse sein

In der Berliner Zeitung wird die Altphilologin Melanie Möller (FU Berlin) zu ihrem neuen Buch befragt. Es trägt den Titel „Der* ent_mündigte Lese:r“ (womit auch gleich deutlich wird, dass die Verfasserin, außer auf dem Titelblatt, auf Genderformen verzichtet). Sie bezeichnet das Buch als „Streitschrift“ für nichts weniger als für die Freiheit der Literatur. „Literatur muss frei sein, wild, darf böse sein und muss auch weh tun können, sonst verliert sie ihren Reiz“, so Möller. Sie lehnt es ab, Klassiker aus den Schulen zu verbannen, Übersetzungen zu glätten, „verbotene“ Wörter zu verbergen oder sogenannte „Triggerwarnungen“ zu geben, die davor warnen, dass der Inhalt eines Buches oder eines Films als anstößig gälte. In zehn Kapiteln verbindet sie jeweils einen antiken Autor mit einem Werk oder Autor jüngeren Datums: „Vergil und Heinrich von Kleist“ oder „Sappho und Astrid Lindgren“. Warum man den Lesern nicht mehr zutraue, dass sie das Buch selbst zuklappen, wenn es ihnen zu hart wird, fragt Möller. Vor allem das „Panische und Alarmistische“ in der Sprache nerve sie sehr. (berliner-zeitung.de (Bezahlschranke))


Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vergeben

Die polnisch-amerikanische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Der Stiftungsrat schreibt, Anne Applebaum habe mit ihren so tiefgründigen wie horizontweitenden Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung offengelegt und sie anhand der Dokumentation zahlreicher Aussagen von Zeitzeugen verstehbar und miterlebbar gemacht. „In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden,“ heißt es vom Stiftungsrat. Die Verleihung des Friedenspreises findet am 20. Oktober 2024 in der Frankfurter Paulskirche statt; der Preis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. (boersenverein.de)


20 Jahre Mentor-Programm

Seit 20 Jahren begleitet der Verein „Mentor – Die Leselernhelfer“ Kinder beim Lesenlernen. Ehrenamtliche Mitarbeiter lesen Kindern vor und wecken ihre Freude am Lesen, die Kinder erweitern ihren Wortschatz . Zum Jahrestag wurden 80 Ehrenamtliche ins Hamburger Rathaus geladen, wo Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher ihnen für die langjährige Bildungsarbeit dankte. (mentor-hamburg.de)


Linguist Hans-Martin Gauger gestorben

In der FAZ würdigt Tilmann Spreckelsen den Linguisten Hans-Martin Gauger. Er sei zeitlebens aufgeschlossen und zugewandt gewesen, ihm sei an der Meinung seiner Gesprächspartner gelegen, „besonders wenn sie Anlass dafür gaben, eigene Ansichten an ihnen zu prüfen oder aus dieser Prüfung heraus zu entwickeln – ein Meister der freundlichen und produktiven Widerrede.“ Sein besonderes Interesse galt Sprachwitzen, die er in mehreren Bänden sammelte und analysierte, sowie Schimpfwörtern im interkulturellen Vergleich. Das Gendern lehnte er ab, er verwies auf den Unterschied der männlichen zur generisch männlichen Form, der sich durch den Sprachgebrauch entwickelt habe. (faz.net, deutscheakademie.de (ein älterer Aufsatz Gaugers))


Comic-Gruppe

Beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels ist eine neue Interessengruppe (IG) „Comic & Co.“ gegründet worden. Darin sollen sich Interessierte mit der Öffentlichkeitsarbeit, Leseförderung und Weiterbildung zum Thema Comics beschäftigen. „Es ist an der Zeit, mit einer eigenen Interessengruppe eine zentrale Plattform für die Belange rund um Comicthemen in der Buchbranche zu schaffen,“ heißt es in einer Mitteilung. Man wolle auch Anstöße dafür geben, dass Produktionsbedingungen verbessert werden. Das erste digitale Planungstreffen ist am 11. Juli, im Oktober soll es die konstituierende Sitzung geben. (boersenverein.de)


2. Gendersprache

Bürger*innenamt

Die SPD Friedrichshain-Kreuzberg will das Bürgeramt der Stadt in Bürger*innenamt umbenennen. Sie versteht ihren Antrag als Vorstoß von Unterstützungsmaßnahmen für queere Personen, also Menschen, die sich nicht als weiblich oder männlich identifizieren. Der Bezirk soll den Antrag auf die Umsetzbarkeit prüfen. Timur Husein, der Vorsitzende der CDU Friedrichshain-Kreuzberg, hält nichts von so einer Umbenennung. Er schrieb bei X (Twitter): „Hilft niemandem (im Gegenteil), aber befördert immerhin das Projekt #spdeinstellig. Weiter so!“ (bild.de)


3. Sprachspiele: Phrasen der Neuzeit

Persona grata

Im Winter 2023 wurde in den Medien eine neue Ersetzung diskutiert: Aus Tagesmutter sollte Kindertagespflegeperson werden, ein offenkundig typisches Bürokratenwort. Kritiker der feministisch korrekten Sprache haben schon oft darauf hingewiesen, dass das generische Femininum Person beliebt ist bei den politisch Korrekten. Man kann dem natürlichen Geschlecht ausweichen: Transperson. Aber Person hat noch andere Vorzüge: Zunächst einmal lässt sich der bürokratische Gebrauch sehr leicht nachweisen, wenn man sich folgende Ausdrücke vergegenwärtigt: Personalstand, Mehrpersonenhaushalt, Personalabteilung, Personalmanagement, Personenstandregister, personenbezogene Daten, Personalausweis, PKW, Bezugsperson, Zielperson, Kontaktperson, Personenwürde und Ansehen der Person.

Die Wortfamilie an sich hat aber auch Ausdrücke mit etwas wärmerer Konnotation. Wie ich in einem Buch schreibe: Jeder möchte eine Person sein und Persönlichkeit haben, aber keiner will zum Personal gehören. Geschenke sollen persönlich sein und jeder will seinen höchstpersönlichen Lebensbereich haben. Dann: Fast überall, wo Person im korrekten Sprech zu finden ist, kann das emphatische Mensch einspringen: Person / Mensch mit Migrationsgeschichte, Person / Mensch mit Behinderung usw. Die Ausdrücke personal, persönlich, personell gehören zu den Dubletten, die viele Schreiber im Gebrauch schwanken lassen, vgl. struktural, strukturell; Identifikation, Identifizierung (man könnte meinen, das eine sei Erkennung von Tätern, das andere das Hineinversetzen in einen anderen, aber beide sind austauschbar); extravertiert, extrovertiert; formell, formal usw. Im Einsatz: persönliche Daten klingt wärmer und schutzwürdig, personalisierte Daten klingt bürokratisch. Es sind aber beide administrativ. Und: Der personalisierte Glückscode und der persönliche Glücksode unterscheiden sich kaum.

Vertreter des Genderns benutzen Person, um andere Ausdrücke zu ersetzen: Die Webseite geschicktgendern.de gibt Ersetzungsvorschläge: Deutscher => Person aus Deutschland, deutsche Person. Busfahrer => busführende Person. Wo ein Maskulinum Schrecken erregt, wie der Bürge, obwohl es eine, sogar zwei weibliche Formen gibt (die Bürge, die Bürgin), wird daraus: bürgende Person. In der Forensik spricht man von der Erfahrung einer Depersonalisierung des Opfers einer Vergewaltigung, man greift nicht zu einem weniger zungenbrecherischen Wort. Person, obwohl nicht grundsätzlich schlecht, ist und bleibt ein administratives Wort und sollte daher so wenig wie möglich von stilbewussten, schreibenden Personen verwendet werden.

Myron Hurna

Der Autor (geboren 1978) promovierte in Philosophie über das Thema moralische Normen. Er schrieb mehrere Bücher über die politische Rhetorik, besonders über die Rhetorik des Holocaustvergleichs und über die politisch korrekte Sprache (Zensur und Gutsprech). Sein neues Buch Amoklauf am offenen Lernort wird bei Königshausen & Neumann erscheinen.


4. Kultur

Dialekt am Niederrhein

Im Nordwesten Nordrhein-Westfalens konnten sich Deutsche und Niederländer lange Zeit gut verständigen. Auch wenn die sprachliche Trennung zwischen (deutschem) Niederrhein und (niederländischem) Maasgebiet Ende des 18. Jahrhunderts abgeschlossen war, überdauerten gesprochene Mundarten in der Region bis in die Neuzeit. Über diese niederrheinische Sprache ging es bei einem Vortrag in Rees (Landkreis Kleve) mit Dr. Georg Cornelissen, dem früheren Leiter der Abteilung Sprachforschung beim Institut für rheinische Landeskunde und Regionalgeschichte im Landschaftsverband Rheinland. Cornelissen erläuterte die Unterschiede zwischen Dialekt und Alltagssprache. „De Papp op hämme“ sei Reeser Platt, „Ich hab‘ den Papp auf“ sei normale Umgangssprache, im Hochdeutschen würde man sagen ‚ich bin es leid‘. (nrz.de (Bezahlschranke))


5. Berichte

Tag der deutschen Sprache im Senegal

Anfang Mai wurde der Tag der deutschen Sprache im Senegal gefeiert. Regionalleiter Amadou Sow und seine Mitstreiter hatten eine größere Veranstaltung für Deutsch-Studenten und -Lehrer sowie für weitere VDS-Mitglieder in der Stadt Rufisque organisiert. Das Thema Umwelt stand im Mittelpunkt, u. a. ein Referat zur Müllvermeidung. Auf dem Programm standen zudem ein Theaterstück, Chorgesang und vorgetragene Gedichte. Grußworte kamen vom stellvertretenden Bürgermeister der Stadt und von der Schulleitung der Lycée Moderne in Rufisque. Die Deutschlehrer aus den Städten Sebikotane, Kounoune und Sangalkam nutzten die Veranstaltung zudem für ein Netzwerktreffen. (vds-ev.de)


Über Sprachpanscher abstimmen

Bis zum 9. August können die Mitglieder des Vereins Deutsche Sprache e. V. noch über den Sprachpanscher des Jahres abstimmen. Nominiert sind die Rektorin der TU Dresden Prof. Ursula M. Staudinger, die Leipziger Buchmesse, die Kunsthalle Hamburg mit ihrem Leiter Dr. Alexander Klar, die staatlich geförderte Organisation „HateAid“ sowie der Verein PETA. Alle Kandidaten sind im vergangenen Jahr besonders schlampig mit der deutschen Sprache umgegangen. Zur Abstimmung über die VDS-Internetseite geht es hier: vds-ev.de.


6. Denglisch

„Polksbagen“ und „Paiting“

Der frühere Eishockey-Profi Martin Hyun (Krefeld Pinguine) stellt in der WELT die koreanische Sprache vor, die der 1979 in Krefeld geborene Sohn südkoreanischer Gastarbeiter als Familiensprache gelernt hat. Das koreanische Alphabet mit seinen 14 Konsonanten und zehn Vokalen sei recht einfach zu erlernen, so Hyun. Aber die Aussprache, die komplizierte Grammatik und die Höflichkeitsformen des Koreanischen seien für deutsche Muttersprachler eine Herausforderung. So gibt es keine Entsprechung für ‚v‘ oder ‚f‘. „Die Automarke Volkswagen kennt man in Korea als „Polksbagen“. Viele Fremdwörter, besonders auch aus dem Englischen, bekämen deswegen einen eigenartigen Klang, wie „Paiting“ für engl. „fighting“. Korea-Reisenden empfiehlt Hyun, unbedingt einige Schimpfwörter zu erlernen. Davon gebe es im Koeranischen viele. (welt.de)


7. Kommentar

Tümelei

Mit schwarz-rot-goldenen Farben herumzulaufen, gilt als Deutschtümelei. Nun ja, man würde sich auch über was anderes freuen wollen als über die EM der gierigen UEFA. Zum Beispiel über die Sportjournalisten. Sie fallen heuer mit einer Eigenschaft auf, die im Vereinigten Königreich oder in Frankreich gar nicht vorkommt: Dass die Namen der ausländischen Fußballer richtig ausgesprochen klingen. Da haben sich die Reporter echt Mühe gemacht, das ist Gastfreundschaft. Deutsch ist übrigens auch die Sprache, in der man die Literatur aller anderen Sprachen am besten kennenlernt. In keine andere Sprache wird so viel übersetzt wie in die deutsche. Weil wir neugierig sind. Fast könnte man sagen: So weltoffen sind nur wir, nur das deutschsprachige Europa. Da könnten wir ja glatt auf Anglizismen verzichten, wir brauchen nichts mehr zu beweisen. (Oliver Baer)

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