1. Presseschau
Lesekompetenz von Grundschülern gesunken
Die Sorge war offenbar berechtigt. Laut einer Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund ist die Lesekompetenz von Viertklässlern im Laufe der Corona-Pandemie dramatisch gesunken. Die Kinder liegen im Vergleich zu früheren Erhebungen etwa ein halbes Lernjahr zurück. Im Distanzunterricht würde tendenziell weniger Zeit für schulisches Lernen aufgebracht als in der Schule – vor allem, wenn die Kinder zu Hause nicht die Möglichkeit haben, konzentriert zu lernen. Die verspätet in Angriff genommene Digitalisierung könne nur begrenzt helfen, die Defizite auszugleichen. „Um das Schreiben zu lernen, braucht man Stift und Papier,“ schreibt Hannah Behtke in der NZZ, „der Bildschirm ist nur bedingt dafür geeignet, die noch unbekannten Buchstaben und Wörter zu erfassen und selbst zu gebrauchen.“ (nzz.ch, ifs.ep.tu-dortmund.de)
Lettisch als Wissenschaftssprache
In Lettland sollen Universitäten und private Hochschulen verpflichtet werden, in der Landessprache Lettisch zu unterrichten. Vor dem Hintergrund der Wissenschaftsfreiheit dürfte eine solche Verpflichtung schwer durchzusetzen sein. Aber ein Gutachten am Europäischen Gerichtshof kommt nun zu dem Schluss, dass das Anliegen berechtigt ist. Denn für die kleine lettische Sprachgemeinschaft (1,4 Mio. Muttersprachler) ist der Status als Wissenschaftssprache bedeutsam. Andere Sprachen dürften jedoch nicht zwangsläufig eingeschränkt werden, argumentiert Nicholas Emiliou, Generalanwalt der EU. In Lettland lebt eine große russischsprachige Minderheit, der Schutz ihrer Sprache müsse berücksichtigt werden. Ob die Regelung verhältnismäßig sei, solle am besten der lettische Verfassungsgerichtshof beurteilen.
In Lettland leben knapp über zwei Millionen Menschen. Zu Zeiten der Besetzung durch die Sowjetunion gab es eine massive Zuwanderung von Russen. Die Einwohnerzahl stieg auf fast 2,7 Millionen an. Seitdem ist die Bevölkerung Lettlands erst aufgrund des Abzugs der Sowjetischen Armee und ihrer Familienangehörigen nach Russland, dann auch wegen niedriger Geburtenraten und Auswanderung massiv gesunken. Laut Volkszählung von 2011 beträgt der Anteil der Russen oder Russischstämmigen etwa 27 Prozent. Es heißt, dass viele oder die meisten am liebsten in Lettland bleiben.
In dieser Sache ist die Wikipedia hinlänglich genau. Zwischen 1940 (Beginn der Besatzung unter Stalin) und 1990 (Wende) „förderte die sowjetische Zentralmacht die ethnische und kulturelle Russifizierung Lettlands. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit wurde die russische Sprache ihrer offiziellen Funktionen enthoben und Lettisch die alleinige Amtssprache. Dies stellte für die russische und weitere Minderheiten ein Problem dar, da sie es in sowjetischer Zeit mehrheitlich abgelehnt oder versäumt hatten, die Sprache der lettischen Bevölkerungsmehrheit zu erlernen.“ Die Integration der russischsprachigen Minderheit in den lettischen Staat bleibt eine schwierige innenpolitische Aufgabe. (spiegel.de, de.wikipedia.org)
Der „Mohr“ vor Gericht
Die von der Berliner Landesregierung geplante Umbenennung der Mohrenstraße im Stadtteil Mitte beschäftigt nun ein Gericht. Der Jurist Bodo Berwald, wohnhaft in der Mohrenstraße, hat Klage eingereicht. Die Umbenennung verstoße unter anderem gegen das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot staatlichen Handelns sowie gegen kommunalrechtliche Regelungen. Der 1707 vergebene Straßenname erinnere „an die durch Kooperation zum beiderseitigen Vorteil geprägten Anfänge deutsch-afrikanischer Beziehungen zwischen 1681 und 1716“ und sei von jeher Ausdruck für die Achtung fremder Kulturen in Brandenburg-Preußen, schreibt Berwald. Wer Straßen umbenenne, fördere das Vergessen. Die Berliner Regierung will die Mohrenstraße in „Anton-Wilhelm-Amo-Straße‟ umbenennen, nach dem ersten schwarzen Rechtsgelehrten in Deutschland, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an den Universitäten in Wittenberg, Halle und Jena lehrte. (welt.de)
Anmerkung: Auch wenn man moralisch berührt ist, bleibt die Frage, ob man sich durch Wortklauberei aus seiner Kolonialgeschichte davonstehlen kann. Ist nicht gerade diese Sprachmanipulation eine rassistische Maßnahme?
2. Gendersprache
Dinslaken soll gendern
Die Grünen im Dinslakener Rat haben beantragt, dass die Verwaltung eine geschlechtergerechte Sprache nutzen muss. Der Doppelpunkt oder geschlechterneutrale Formulierungen seien die Waffe der Wahl, so die NRZ. Als Vorbild gelten die Regeln der Hansestadt Lübeck. Unter anderem wird darin Frauen vorgeschrieben, wie sie über sich selbst zu sprechen haben. So wolle man für weniger Diskriminierung sorgen, heißt es von den Grünen. Der Fraktionsvorsitzende Niklas Graf sieht in dem Vorstoß eine Wertschätzung gegenüber allen Menschen, unabhängig von ihrer Identität, überholte Rollenbilder sollten auch mit Hilfe der Sprache aufgebrochen werden. (nrz.de)
Anmerkung: Der Kabarettist Sebastian Pufpaff fragt in seiner spöttisch-trockenen Art, ob man statt Worten lieber Taten sprechen lassen sollte? Nicht nötig, es genügt den Schein zu wahren; wer gendert, hat seine Pflicht getan.
GfdS zufrieden mit Genderstern-Studie
Eine Studie der Universitäten Würzburg und Kassel hatte kürzlich herausgefunden, dass das Gendersternchen Frauen hervorhebt und somit nicht geeignet sei, um beide Geschlechter gleichberechtigt anzusprechen (siehe unseren Infobrief von vergangener Woche: vds-ev.de). Die Gesellschaft für deutsche Sprache sieht sich in ihrer Position bestätigt, dass Genderzeichen nicht geeignet seien, eine neutrale Kommunikation zu fördern. In ihren eigenen Leitlinien empfiehlt die GfdS die Verwendung von Doppelformen. (gfds.de, gfds.de)
3. Sprachspiele: Unser Deutsch
Vergissmeinnicht
Der Volksglaube sah in den kleinen hellblauen Blüten die Augen frisch Verliebter. Ein Sträußchen Vergissmeinnicht sollte ein Zeichen von Liebe und Treue sein. Früher, als es noch Poesiealben gab, war das Wort als lieber Gruß unverzichtbar. Der Name des Blümchens ist alt. Er begegnet uns bereits im 15. Jahrhundert, so auch für andere Blumen wie Männertreu und Jelängerjelieber.
Interessanterweise kommt der Name Vergissmeinnicht auch in vielen anderen europäischen Sprachen vor, zum Beispiel französisch ne m’oubliez pas, englisch forget-me-not, niederländisch vergeetmijniet, schwedisch förgätmigej und polnisch niezapominajka. Das lässt sich nicht durch gegenseitige Entlehnung erklären. Es deutet eher auf eine gemeinsame, wahrscheinlich lateinische Quelle hin, die bisher nicht bekannt ist. So wirken ältere Bezeichnungen durch Lehnübersetzung bis in die Gegenwart fort.
Eine Besonderheit ist auch die Bildungsweise. Das Verbum in Vergissmeinnicht ist ja der Imperativ Singular von vergessen, das Objekt mein ist der heute veraltete Genitiv des Personalpronomens 1. Person. Im Namen ist hier eine veraltete Form erhalten. (Heute würde man sagen vergiss mich nicht.) Diese Wörter nennt man ‚Satznamen‘, weil sie die Form eines ganzen Satzes haben. Man vergleiche Gottseibeiuns, eine verhüllende Bezeichnung für den Teufel, den Familienamen Machewurst für einen Metzger oder den sprechenden Produktnamen Nimm2.
In die wissenschaftliche Terminologie ist der Name Vergissmeinnicht nicht eingegangen. Der Schöpfer unserer botanischen und zoologischen Nomenklatur, Carl von Linné, knüpfte an die griechische Bezeichnung myosōtis ‚Mausohr‘ an, die bereits als althochdeutsch mūsōra übersetzt wurde. Der Vergleich mit den Öhrchen einer Maus ist hübsch, aber unvergleichlich ansprechender und lebensnäher ist doch die Zuwendung an einen Partner mit einem Sträußchen Vergissmeinnicht.
Horst Haider Munske
Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de.
4. Kultur
Seltene Schriftrolle im Israel-Museum
Das Israel-Museum in Jerusalem hat einen wertvollen Neuzugang. Eine Esther-Rolle aus dem 18. Jahrhundert, die seinerzeit von einem 14-jährigen Mädchen illustriert wurde, findet nun ihren Platz in der Sammlung. Es handelt sich um eines der wenigen jüdischen Manuskripte, die im Laufe der Geschichte von Sofrot, professionellen Schreiberinnen, erstellt wurden. Weltweit sind nur zwei weitere von einer Frau signierte Esther-Rollen bekannt. Beide werden in Privatsammlungen aufbewahrt. Die Künstlerin des hebräischen Manuskripts war Luna, Tochter von Yehuda aus der bürgerlichen jüdischen Familie Ambron. Die ursprünglich aus Spanien stammenden Ambrons ließen sich nach der Vertreibung in Rom nieder, wo sie zu einer der wohlhabendsten und prominentesten Familien im Ghetto wurden. Durch die Schriftrolle und das Segensblatt kann das Museum mehr über die Schreiberin und ihre Arbeit erfahren. Die Kuratorin des Israel-Museums, Rachel Sarfati, erklärt, dass man dadurch neue Erkenntisse zur Rolle der jüdischen Frau in der Kunst und der religiösen Praxis gewinnen kann. (juedische-allgemeine.de)
Einmaliges Wermelskirchen
Der Sprachwissenschaftler Professor Björn Köhnlein hat das Wermelskirchener Platt untersucht. Durch Probeaufnahmen und Besuche in der nordrhein-westfälischen Stadt näherte er sich der Mundart aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Die Ergebnisse, die er in einem digitalen Vortrag mit rund 43 Zuhörern vorstellte, überraschen. Laut Köhnlein ist der Dialekt einmalig und seine Entwicklung in keinem anderen Dialekt in Deutschland erkennbar. „Die Mundart in Wermelskirchen verbindet sehr alte Sprachstadien mit heutigem Hochdeutsch“, sagt Köhnlein, „sie funktioniert nach eigenen Regeln.“ Und das unterscheide sie systematisch von allen anderen ihm bekannten deutschen Dialekten. Weiterhin untersuchte er, ob es in der Mundart Tonakzente gebe, also bestimmte Wörter, die durch eine andere Betonung die Bedeutung verändern. Jedoch konnte er keine finden. Am Ende seines Vortrags sprach er sich für die Beibehaltung der Mundarten aus. Diese würden gegenüber dem Hochdeutsch immer noch zu Unrecht abgewertet. Köhnlein wünscht sich, dass Kinder ebenfalls den Dialekt lernen, um das Fortbestehen der besonderen Mundart in der nächsten Generation zu sichern. (rp-online.de)
5. Berichte
150 Jahre Schleizer Duden
Die Stadt Schleiz hat ihr Gedenkjahr „150 Jahre Schleizer Duden“ eingeläutet und im Rutheneum, dem früheren Schleizer Gymnasium, an dem auch Konrad Duden lehrte, eine neue Ausstellung eröffnet. Unter der Leitung Dudens wurde 1872 erstmals das Regelwerk und Wörterverzeichnis „Zur deutschen Rechtschreibung“ veröffentlicht, das die Grundlage für die Erfolgsgeschichte des Duden-Wörterbuchs darstellt. In den nächsten Monaten wird sich das Duden-Museum mit mehreren Veranstaltungen dem Duden-Jubiläum widmen. Ein Grußwort hielt VDS-Vorstandsmitglied Jörg Bönisch. Er kritisierte die heutige Duden-Redaktion, die sich mit sprachpolitischen Eingriffen von Konrad Dudens Idealen entferne. Mit der Umdeutung des generischen Maskulinums zu einer rein männlichen Form betreibe die Duden-Redaktion eine problematische Zwangssexualisierung, die in der deutschen Sprache so nicht vorgesehen ist, so Bönisch. (otz.de (Bezahlschranke), rutheneum-schleiz.de)
Anmerkung: „Der Duden“, wie man den Rechtschreibduden gemeinhin nennt, galt in der Bundesrepublik Deutschland von Ende 1955 bis zur Rechtschreibreform 1996 als maßgebend in Zweifelsfällen der deutschen Rechtschreibung und erlangte in dieser Zeit den Nimbus einer geradezu amtlichen Vorschrift. „Steht es im Duden?“ war das Totschlagargument gegen jederlei Zweifel. Spätestens seit 1996 sollte sich herumsprechen, dass der Duden durch keinerlei Vorschrift oder gar Gesetz gegen Fragen und Einwände geschützt ist. Erwähnenswert bleibt auch, dass es im Interesse des Duden wie auch von Schulbuchverlagen liegt, wenn die Auseinandersetzung um „korrekte Sprache“ fortwährend frische Nachfrage nach Neuauflagen von Wörter- und Lehrbüchern generiert (nein, nicht: genderiert).
6. Denglisch
„Pitchen“
Vor allem in der Geschäftswelt sind Anglizismen weit verbreitet. Dort kann auch mal der Satz „morgen früh muss ich mein Projekt pitchen“ fallen. Dabei handelt es sich um die eingedeutsche und fragwürdige Form des englischen Verbs to pitch something. – etwas propagieren, anstimmen (etwa ein Instrument) oder auch etwas werfen (zum Beispiel beim Baseball). Kontextabhängig hat das Verb viele unterschiedliche Bedeutungen, als Anglizismus ist in der Geschäftswelt meist im konkurrierenden Sinne die Vorstellung eines Projekts, einer Werbekampagne oder eines verkaufsfördernden Konzeptes gemeint. (fr.de)
Asche zum Mitnehmen
Die Acher-Rench-Zeitung berichtet über die Austeilung des Aschekreuzes in der „Seelsorgeeinheit Oberkirch“. Die Form der Ascheauflegung mit Einzelsegen war nach dem Wortgottesdienst in St. Cyriak auch als „Ash-to-go“ möglich. Im Klartext heißt das wohl, die Gläubigen konnten sich den Gottesdienst am Aschermittwoch sparen und das Aschekreuz quasi im Vorbeigehen mitnehmen. Abgesehen von der – gar nicht linguistischen – Frage, ob das sakramentale Zeichen auf diese Weise entwertet wird: Warum gesellt sich die Kirche begrifflich auf eine Stufe mit Fast Food oder Kaffee aus Pappbechern?
Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten der vergangenen Woche zur deutschen Sprache. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion.
Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke