Infobrief vom 29. Januar 2022: Bremerhaven: Erst hü, dann hott

1. Presseschau

Bremerhaven: Erst hü, dann hott

Die Freude über den Vorrang korrekter Sprache in Bremerhaven währte nur kurz. Die Bremerhavener Koalition aus CDU, FDP und SPD hatte beschlossen, die Verwaltung solle sich nicht länger mit Vorlagen befassen, wenn sie Gender-Elemente beinhalten. Das Maß aller Dinge sei die regelkonforme deutsche Rechtschreibung, so der SPD-Chef Sönke Allers laut Buten un Binnen, einem Magazin des öffentlich-rechtlichen Senders Radio Bremen. Der Redakteur des Magazins, Boris Hellmers, sprach dagegen von einem „skurrilen Vorgehen“ mit dem sich die Verwaltung „ins Vorgestern“ zurückschießt. Der Grund für diese Entscheidung, sei offensichtlich: „Ein Blick auf die Seite der Fraktion (Anm.: CDU-Fraktion) in der Stadtverordnetenversammlung zeigt drei – klar, Männer.“ Dazu führt er den Duden als Kronzeugen an: „Es gibt kein Gesetz, nach dem der Staat sich sklavisch an den Duden halten muss. Aber es gibt hochinstanzliche Urteile, die gerade vom Staat verlangen, alle Menschen anzusprechen.“

Entgegen dem beachtlichen Zuspruch in den sozialen Medien und Kommentarspalten der Presse hat der Magistrat die Entscheidung wenige Tage später revidiert: „Die unterschiedlichen Reaktionen auf den Magistratsbeschluss haben uns gezeigt, dass der gewählte Weg nicht der richtige gewesen ist“, heißt es in einer gemeinsam Erklärung der Fraktionsvorsitzenden Sönke Allers (SPD), Thorsten Raschen (CDU) und Hauke Hilz (FDP). Kritik hatte es von der Opposition, der Grünen Jugend in Bremen und der Landesfrauenbeauftragten gegeben. Vom Bremer Senat solle nun ein Vorschlag zu einer „verbindlichen gesetzlichen Regelung für die Verwendung gendersensibler Sprache“ kommen. Die Diskussion der vergangenen Tage habe gezeigt, diese Frage sollte nicht an Geschmacks- oder Gefühlsfragen hängen und Empfehlungen würden nicht ausreichen. (butenunbinnen.de, weser-kurier.de, cdu-bremerhaven.de)

Anmerkung: Für die amtliche Rechtschreibung ist der Duden nicht mehr verbindlich, der Duden geht eigene Wege, ernstzunehmenden Journalisten ist das bekannt. „Höchstinstanzliche Urteile“ sollte man lesen, bevor man sich auf sie beruft. Vermutlich geht es um das BGH-Urteil zum Dritten Geschlecht. Sprachliches Gendern wird darin nicht gefordert. Bemerkenswert ist der umgekehrte Sexismus: Kommt ein Vorschlag von Männern, muss er schon verdächtig sein. Das wird die Geschlechtergerechtigkeit voranbringen.


Wissenschaft auf Englisch hat ihren Preis

„Die als ‚Internationalisierung‘ betriebene Anglisierung des akademischen Betriebs ist (…) nicht so harmlos, wie ihre hoffnungsvollen Verfechter glauben“, schreibt Thomas Will, Professor für Denkmalpflege und Entwerfen an der TU Dresden, in der FAZ. Darin zeigt er die Nachteile für die Anglisierung des Wissenschaftsbetriebes nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, sondern weltweit auf. Er nennt zunächst die bekannten, aber weiterhin ignorierten Argumente: Lehren und Lernen in der Zweitsprache Englisch mindern die sprachliche und wissenschaftliche Kompetenz. Wissenschaft wird von der nicht akademisch gebildeten Mehrheit der Gesellschaft abgekoppelt; was der Bürger nicht einmal sprachlich versteht, kann er kaum unterstützen. Zudem gelingt der Gewinn neuer Erkenntnisse am besten auf Grundlage der Muttersprache. Englisch als einzige gültige Wissenschaftssprache kommt der englischsprachigen Welt zupass, allen anderen Sprachräumen nicht, und ausländische Studenten, beispielsweise in Deutschland, erlernen nicht mehr die Sprache ihres Gastlandes.

Will hebt einen Aspekt hervor, der ungern diskutiert wird. Die „Internationalisierung“ passt zum Geschäftsmodell vor allem der privaten Universitäten und Fachhochschulen. Sie werben Studenten aus dem Ausland an, die es nicht an die renommierten Universitäten im Vereinigten Königreich oder in den USA geschafft haben oder denen ein Studium dort zu teuer ist. Europas Hochschulen bieten daher „Programme in oft zweifelhaftem Englisch“ an, sagt Will. Damit senken sie „ihre eigenen intellektuellen Standards.“ Er nennt die forcierte Internationalisierung „fordistisch“ (also nach dem durch Henry Ford betriebenen industriellen Umbau der Produktion nach dem 1. Weltkrieg). Das bedeute: English only sei „recht praktisch“, aber „den Preis, den man dafür bezahlt, sollte man benennen.“

Bei Werken englischsprachiger Autoren fehlen oft deutsche, französische, japanische Quellen. Als hätte man nichts Stichhaltiges zur Wissenschaft beizutragen, wenn einem das Talent zum Englischen fehlt. Auf diese Weise gewinnen angelsächsische Muttersprachler überall die „natürliche“ Deutungshoheit. Das erinnert an das Gebaren der Missionare und Kolonialherren. Will mahnt, man solle die „hegemonialen, tendenziell neokolonialen Züge“ dieser Entwicklung nicht übersehen. Nationalismus und Isolationismus seien darauf keine valide Antwort, sondern Koexistenz und Gegenseitigkeit der Kulturkreise. (zeitung.faz.net)


Wortneuschöpfungen für das moderne Familienmodell

In einer ZDF-Talkshow diskutierte die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Anne Spiegel, die Idee „Stiefvater“ und „Stiefmutter“ durch „Bonus-Vater“ und „Bonus-Mutter“ zu ersetzen. Spiegel erklärte, dass die ursprünglichen Begriffe veraltet seien und mit Negativem assoziiert werden. Durch die neuen Begriffe erhoffe sie sich eine sprachliche Aufwertung. Im Netz stößt der Vorschlag bei vielen Nutzern auf Kritik. Ob ein Begriff gut oder schlecht konnotiert ist, sei eben Ansichtssache und keine Definitionsaufgabe der Politik. Ein Nutzer auf Twitter bezeichnete Spiegels Vorschlag sogar als familienfeindlich, denn die neuen Begriffe suggerieren, dass Kinder mit leiblichen Eltern ohne einen „Bonus“ leben.
Spiegel stellte in der Talkshow noch weitere Begriffe vor. Als Bezeichnung für ein modernes Familienverhältnis schlug sie das Wort „Verantwortungsgemeinschaft“ vor. Damit sei ein Zusammenschluss von Menschen gemeint, die füreinander Verantwortung übernehmen wollen. Das Wort könne man beispielsweise in Bezug auf zwei Alleinerziehende verwenden, die zusammenziehen. Eine Liebesbeziehung müsse nicht bestehen, um eine Verantwortungsgemeinschaft zu bilden. Auch könnten etwa ein lesbisches Paar und zwei homosexuelle Männer den Begriff verwenden, insofern „die Männer die biologischen Eltern der Kinder dieser Frauen seien.“ Die Konstellationen in dem modernen Familienmodell seien eher zweitranging; wichtig sei, dass man füreinander einstehe. (bild.de, merkurist.de)


Zum Tod des Germanisten Nils Århammar

In der WELT erinnert Horst-Haider Munske an den schwedischen Germanisten Nils Århammar, der am 10. Januar im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Århammar hat Jahrzehnte seines Lebens der Erforschung der nordfriesischen Dialekte gewidmet. Zunächst arbeitete er an der Nordfriesischen Wörterbuchstelle in Kiel, habilitierte sich 1974 in Marburg und wurde 1976 an die Rijksuniversiteit Groningen, auf die damals einzige Professur für Friesisch in Europa berufen. Ab 1988 lehrte er an der Pädagogischen Hochschule Flensburg und wurde Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredstedt, einem korporativen Mitglied des VDS. Nils Århammar sei ein begnadeter Feldforscher gewesen, die Dialekte in Nordfriesland beherrschte er aktiv. Das unter seiner Mitarbeit entstandene „Handbuch des Friesischen“ (2001), ist die erste umfassende Gesamtdarstellung des Faches. Heute wird Friesisch wieder in der Schule unterrichtet und ist im Rundfunk zu hören. (welt.de)


2. Gendersprache

Journalisten lehnen Gendersprache ab

Laut einer Umfrage des Wirtschaftsforschungsinstituts Dr. Doeblin lehnen Wirtschaftsjournalisten mehrheitlich genderneutrale Formulierungen ab. Im Dezember 2021 wurden 148 Wirtschaftsjournalisten aller Mediengattungen befragt. Das Ergebnis zeigt, dass Paarnennungen, wie beispielsweise „Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“ von rund drei Viertel der Befragten akzeptiert werden. Auch Verlaufsformen wie „Mitarbeitende“ werden von der Hälfte der Befragten noch gebilligt. Nur eine Minderheit der Gender-Befürworter hingegen billigt den Gebrauch des Gender-Sterns oder des Doppelpunkts. Kritisiert wurde vor allem die schlechtere Lesbarkeit von Texten und die fehlende Einheitlichkeit. Unternehmenskommunikation solle „klar und schnell zu erfassen sein“. (kom.de, wp-online.de)


Michael Degen gegen das Gendern

Ein weiterer Prominenter des Fernsehens kritisiert das Sprachgendern. Michael Degen, der als Schauspieler und Schriftsteller bekannt ist, sagt gegenüber der Deutschen Presseagentur in Hamburg „Wenn ich auf der Straße höre: ‘Ey Digga, gehst Du Edeka?‘, schüttelt es mich … Wenn allerdings in den Medien auf Teufel komm raus gegendert wird, auch.“ Sprache sollte nicht bis zur Unkenntlichkeit zerbeult werden. Neben Dieter Hallervorden und jüngst Jürgen von der Lippe reiht sich Michael Degen nun auch in die Reihe der Prominenten ein, die sich gegen das Gendern aussprechen. (tag24.de)


Anglist beklagt Einseitigkeit der Debatte

Der Anglist Dr. Werner Schäfer (ehem. Universität Trier) hat beim SWR2-Format Wissen: Aula einen Vortrag zur Gendersprache gehalten, der als Podcast und Manuskript zugänglich ist. Er betrachtet das Gendern im Alltag – immer unter dem Aspekt der sprachwissenschaftlichen Entwicklung. Er stellt heraus, dass man Wörter „nicht beim Wort“ nehmen darf, denn oft bedeuten sie nicht, was sie wörtlich darstellen. Als Beispiel nennt er eine Begegnung im Zug, wo sich eine Gruppe von ausschließlich jungen Frauen, denen er im Zug begegnete, mit „you guys“ ansprach. Dies bedeutet eigentlich „ihr Jungs“, dennoch sahen die jungen Frauen darin keine falsche Selbstbezeichnung. Ähnlich verhalte es sich bei vielen anderen sprachlichen Phänomen: Ein Zollstock messe Zentimeter, nicht Zoll; ein Meerschweinchen sei kein Schweinchen; jemand sei „furchtbar nett“ sei kein Widerspruch – „es gibt keine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Sprache und Welt oder eine entsprechende Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Sprache und Denken“, so Schäfer. Viele Begriffe – vor allem Namen – seien in einer patriarchalischen Gesellschaft entstanden, eine „Frau Altmann“ sei aber dennoch nichts Herablassendes. Wörter ergäben ihre Bedeutung immer im Kontext. In „Der ist ja verrückt“ und „Ich habe den Tisch verrückt“ habe das Wort „verrückt“ zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen, die im Zusammenhang mit dem Rest des Satzes selbsterklärend sind. Gleiches geschehe beim generischen Maskulinum, sagt Schäfer: „‚In Deutschland gibt es weniger Grundschullehrer als Grundschullehrerinnen‘ (hier sind nur die männlichen gemeint) als in dem Satz ‚Grundschullehrer werden in Deutschland besser bezahlt als in Italien‘ (hier sind alle, männliche und weibliche Grundschullehrer gemeint). Über die Bedeutung entscheidet der Kontext. Wir wissen, ob männliche und weibliche Personen oder nur männliche gemeint sind.“ Dazu komme die Tatsache, dass auch genusfreie Sprachen wie das Türkische nicht automatisch eine Gesellschaft zur Folge haben, in denen die Geschlechter gleichberechtigt sind. Problematisch sei bei der Diskussion die Ideologie, die angesetzt würde: Man spreche von Geschlechtergerechtigkeit, das unterstellt, damit kämpfe man für eine gute Sache. Deswegen kämen in den Medien beim Thema Gendern so gut wie nur Befürworter zum Zug, Skeptiker seien die Ausnahme: „Es wird, ohne dass das offen ausgesprochen wird, suggeriert, die anderen, das könne nur die tumbe, uninformierte Masse der ewig Gestrigen sein, der Unaufgeklärten. Dass auch Skeptiker rationale Argumente vorbringen können, scheint unvorstellbar zu sein. Dabei haben sich Schriftsteller wie Sibylle Lewitscharoff, Feridun Zaimoğlu oder Eugen Ruge durchaus in dieser Richtung geäußert, aber sie bekommen längst nicht die Bühne wie die Befürworter des Genderns.“ (swr.de)

3. Sprachspiele: Flimmern und Rauschen

Eine Herausforderung ist kein Problem – Hüte dich vor den Sprachspielen in der Politik!

Es reicht! Hört auf! Schluss jetzt! Ja, der Fußballsport hat sich verändert: Ein Spiel dauert nicht mehr 90 Minuten, jeder Torschrei unter Videovorbehalt, und wenn irgendwo der Gassenhauer „Wer wird Deutscher Meister?“ angestimmt wird, antworten nur noch Komiker oder Bedauernswerte mit „HSV“. Drückschirme und Spielstationen haben Transistorradios und Stecktabellen entmachtet, auf jedem Abziehbild eine Tätowierung, aber kein Schnäuzer mehr weit und breit. Es ist verständlich, dass im Zuge dessen auch das bewährte Vokabular nicht ewig leben kann, jedoch: Ihr Sportreporter und Experten habt es zu weit getrieben! Haben Sie mal reingehört in aktuelle Aufsagungen?

Vor Jahren saß ich mit einem Freund in Weimar beisammen, und er brachte ein spannendes Thema auf den Tisch: Immanuel Kants zweite Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Jahre 1787 unterscheide sich an manchen Stellen signifikant von der Erstauflage aus dem Jahre 1781. Schon in des Meisters Einleitung zur Neuauflage mache dieser höchstselbst deutlich, dass etliches aus Ausgabe 1 sich als falsch oder unzureichend erörtert erwiesen habe oder wenigstens ergänzt werden müsse. Daher käme, so mein Freund, eine heutige Bezugnahme auf Ausgabe 1 oft einer Beugung der Wahrheit gleich, die aktuelle Darstellung Immanuel Kants in der Philosophieanalyse sei mangelhaft und bedürfe einer vor diesem Hintergrund kritischen Wertung. Er bat mich um meine Einschätzung des Sachverhalts. Ich bestellte eine Frühlingsrolle und versprach, bis zu unserem nächsten Wiedersehen Erst- und Zweitauflage von Kant gelesen und verglichen zu haben. Seitdem hatten er und ich keinen Kontakt mehr.

Mein Freund ist ein großer Kenner der Philosophie, auch er selbst ist ein Philosoph, seine Werke werden posthum Wirkung entfalten, da bin ich sicher. Zu Lebzeiten ist der Mann leider so sehr mit Lesen und Schreiben beschäftigt, dass in seinem Stundenplan kein Platz bleibt für jämmerliche Vermarktungsfragen. Er ist zu klug, um bescheidenen Lebensverhältnissen je entrinnen zu können, ihm fehlt die Fähigkeit, sich auf Precht-Lanz-Podcasts runterzuschrauben. Irgendwann nach unserem Treffen fiel mir etwas auf in der Fußballberichterstattung, das ich erst belachte, dann beweinte, da es sich als beständiger Faktor erweisen sollte. Ein Reporter stellte fest, dem Kraichgauklub TSG Hoffenheim fehle die richtige „Philosophie“. Bitte? Seine folgenden Ausführungen ließen vermuten, dass der Verein in seinem Auge für nichts Erkennbares stehe. Er hätte das Wort „Image“ nutzen können, doch sobald ein Anglizismus mal etabliert ist oder Sinn hat, scheint dieser nicht mehr gewollt.

Hoffenheim habe keine Tradition, keine Seele, es gäbe dort keinen prägenden Spielstil, zu wenig Bindung an das gewachsene Gefühl einer Region – all das führte der Reporter aus und meinte wohl, es mit dem Ausdruck „Philosophie“ gebührend gebündelt zu haben. „Philosophie“ – passt das wirklich? Dürfen wir für Trivialthemen wie Fußball einfach so, unwidersprochen und völlig ironiefrei einen Ausdruck verwenden, der mit der Seele unseres Landes und unserer Sprache wie kaum ein anderer verwoben ist und für Weltweisheit steht? Geht das, ohne dabei ein Foul zu begehen?

Heroen wie Ronaldo, Messi oder Nico Schlotterbeck vom SC Freiburg können selbstverständlich nicht mehr mit Bananenflanken oder Steilpässen in sprachliche Verbindung gebracht werden, das gebietet der inszenatorische Anstand. Kontern? Nein, Umschaltspiel. Zwei Querpässe hintereinander? Werden sofort zu „Nagelsmannfußball“ erhoben (hat wirklich jüngst ein Grünschnabel so gemacht). Im wöchentlichen Fernsehsprechtreff „Sky90“ meinte Didi Hamann (wörtlich): „Des braucht a Philosophie“. Worum es dabei ging, weiß ich nicht mehr, doch eines weiß ich genau: Didis Worte tun weh! Zum Glück hat mein Freund in Weimar kein Bezahlfernsehen.

Achten Sie drauf: Es vergeht seit Monaten kein Spieltag (wirklich KEINER), ohne dass jemand von „Philosophie“ spricht, wenn er in Wahrheit nur die Taktik meint. Ungeniert wird schwadroniert von „Philosophie“, sobald jemand auch nur sagen will, dass hinten besser drei statt fünf Mittzwanziger eine Reihe hätten bilden sollen. Eine „klare Philosophie“ wird dem FC Köln beurkundet, seit Steffen Baumgart dort eine Schiebermütze vorführt. Reporter schnappen sich die „Philosophie“ wie ein Canapé vom Servierwagen der Sprachbrocken und schlucken sie bis in den Abstiegskampf der zweiten Liga runter. Woran es liegt, dass der SV Sandhausen sich so nachhaltig im bezahlten Fußball halten kann? Genau! „Philosophie“ ist alles – aber nicht alles sollte „Philosophie“ sein.

Sprache verrät viel: über Werte, über Wertschätzung, über Wichtigtuerei. Das Wort „Box“ scheint im deutschen Fußball dem Wort „Strafraum“ mächtig auf die Pelle zu rücken, man müsse sich „committen“ ertönt es oft in Pressekonferenzen, Zuschauer:innen gibt es jetzt auch außen – das alles empfinde ich als ganz schön plemplem, doch ich habe es zu ignorieren gelernt. Aber, liebe Reporter, auch und gerade Ihr in Eurer unangemessenen sprachlichen Wirkmacht qua medialer Dauerpräsenz solltet Grenzen erkennen, achten und wahren. Macht die Philosophie bitte nicht zu einem neuzeitlichen „Ja-gut-ich-sach-ma“. Das hat Immanuel Kant nicht verdient.

Ludger Kusenberg

Ludger Kusenberg alias Ludger K. hat als Conférencier mehr als 1.000 große Varietéshows moderiert (u. a. für Roncalli), als Solo-Kabarettist war und ist er regelmäßig in Deutschlands bedeutendsten Kleinkunsttheatern zu Gast. Zudem hat er 15 Jahre als freier Mitarbeiter beim WDR-Fernsehen auf dem Buckel, seine Tätigkeit ruht zurzeit. Als einer der wenigen in seiner Zunft bekennt er ganz offen: „Ich bin konservativ!“ Info und Termine unter www.ludger-k.de.


4. Kultur

Straßennamen in der moralischen Grauzone

In seinem Artikel für die WELT hinterfragt der Journalist Matthias Heine die Entscheidung, 290 Berliner Straßen umzubenennen. Der Berliner Antisemitismus-Beauftragte, Prof. Dr. Samuel Salzborn, hat bereits im Dezember eine Liste mit 290 Straßen erstellen lassen, deren Namenspaten sich in der Vergangenheit antisemitisch geäußert haben sollen. Bekannte Beispiele sind Martin Luther, Richard Wagner und Heinrich von Treitschke. Nun geraten auch die Gebrüder Grimm, Konrad Adenauer oder Maximilian Kolbe ins Kreuzfeuer. Besonders erstaunlich angesichts der Tatsache, dass Kolbe als Märtyrer im Konzentrationslager Auschwitz starb, weil er Juden bei der Flucht geholfen hatte. 1982 wurde er von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Jedoch habe er sich in den 1930er Jahren in katholischen Zeitschriften auch gehässig über Juden geäußert. Heine plädiert für einen differenzierten Blick auf die Vergangenheit, er soll klarstellen, dass man an jeder Person etwas problematisch findet. Den hohen moralischen Ansprüchen der heutigen Zeit könne kaum jemand gerecht werden. Heine argumentiert, dass Irrtümer der Vergangenheit, die für Wahrheiten gehalten wurden, unvermeidbar seien und selbst ein „protofeministisches dichtendes Kindermädchen aus dem Frühbarock“ vermutlich eine homophobe, rassistische oder nationalistische Vergangenheit haben könne. Auch der Intendant der Komischen Oper in Berlin, Barrie Kosky, betont, dass solche Listen nicht zwischen Politikern, Künstlern oder Autoren differenzieren und es deswegen keine Grauzonen gebe. Jedoch sollte man nicht alle auf ihren Judenhass reduzieren. „Wir haben im 20. Jahrhundert genug von deutschen Listen gesehen“, kommentiert Kosky mit einem bösen Wortwitz. Genau diese historischen Grauzonen sollte man laut Heine berücksichtigen, denn auch wir könnten in der Zukunft vom hohen Ross der moralischen Überlegenheit gestoßen werden. (welt.de)


Ruhrpott-Ausdrücke und ihr Ursprung

Im Dortmunder Museum für Kunst- und Kulturgeschichte gibt Ann-Kathrin Märker Themenführungen und erklärt einige der bekanntesten Ruhrpottausdrücke. So stamme beispielsweise die „Arschkarte“ aus dem Fußball, denn vor den Zeiten des Farbfernsehens zückte der Schiedsrichter die rote Karte aus seiner hinteren Hosentasche und die gelbe Karte aus seiner Brusttasche, man konnte rascher unterscheiden, um welche Verwarnung es sich handelt. „Etwas auf die hohe Kante legen“ stammt aus Zeiten, als man sein Bargeld nicht zur Bank brachte, sondern eben auf einem Baldachin versteckte, einem Dach über den Betten. Weiterhin erklärt die Kulturhistorikerin, dass Besteck früher sehr wertvoll war und nach dem Tod weitervererbt wurde, deswegen „gibt man den Löffel ab“. Einige Ausrücke haben ihren Ursprung sogar im Mittelalter. „Einen Zacken zulegen“ konnte man nämlich in der mittelalterlichen Küche, da der Kessel an einem senkrecht gezackten Haken über dem Feuer hing und diese der Temperaturregulierung dienten. Je tiefer der Kessel hing, desto schneller war das Essen heiß. (bild.de)


Politikernamen in Gebärdensprache

Verben, Substantive, Adjektive – für all das gibt es in der Gebärdensprache ein Zeichen, oder es wird eine Tätigkeit beschrieben, die damit verbunden ist (z. B. eine Gebärde für „Brot“ sowie „backen“). Bei Namen wird es kniffelig, denn die sind häufig individuell und können nicht hergeleitet werden. Dennoch haben Gebärdendolmetscher eine Möglichkeit gefunden, auch Namen kenntlich zu machen. Mit der neuen Regierung mussten neue Namen für den Kanzler und die Minister her. Die Diplom-Dolmetscherin Katja Fischer hat in der Bild ein paar Beispiele aufgezeigt. Kanzler Olaf Scholz wird entweder mit seinen Initialen O und Sch beschrieben. Alternativ wird auch die Gebärde für „Haarkranz“ genutzt. Außenministerin Annalena Baerbock wird durch zwei Finger (für die beiden N in ihrem Namen) dargestellt, die vom Ohr hängen (Baerbock trägt häufig Ohrringe). Wirtschaftsminister Robert Habeck wird ebenfalls durch zwei Finger dargestellt, die jedoch leicht anders stehen: Aus dem N (bei Baerbock) wird im Fingeralphabet so ein H (für Habeck), dazu werden die Finger an die Stirn gehalten, da er häufig die Stirn runzelt. Besonders einfach wird es bei Gesundheitsminister Karl Lauterbach – seine Gebärde: eine Fliege. (bild.de)


5. Berichte

VDS-Mitglied Claus Maas zum Gendern

In der Aachener Zeitung wird Claus Maas als „kein Freund vom Gendern“ vorgestellt. Maas ist Leiter der VDS-Region Aachen und der AG „Deutsch in der Schule“ sowie Mitglied der Arbeitsgruppe Gendersprache. „Wenn wir von Gendern reden, bedeutet das, dass die Sprache sexualisiert wird. Man will die Geschlechtlichkeit der Menschen sprachlich sichtbar machen, auch da, wo sie gar keine Rolle spielt“, sagt Maas. Warum man aber gleich polemisch von „Gender-Unfug“ sprechen müsse, will der Journalist wissen. „Wenn (…) mit der Sprache abwegige Symbolpolitik betrieben wird, muss man das auch Unsinn nennen dürfen“, so Maas. (aachener-zeitung.de)


Wörterbuch für Birlinghover Platt

Dialekte gibt es im deutschen Sprachraum gefühlt so viele wie Bäume im Stadtwald. Aber nicht jeder Dialekt ist schriftlich festgehalten, oft sind es nur ein paar hundert Muttersprachler, die ihn in seiner Region am Leben erhalten. Josef Steinhauer ist so einer, er kommt aus Sankt Augustin (Rhein-Sieg-Kreis) und ist mit dem Birlinghover Platt (mundartlich: Bielekovve Platt) aufgewachsen. Im General Anzeiger wurde jetzt sein Wörterbuch „Saach ess Bielekovve“ („Sag mal Birlinghoven“) vorgestellt, in dem er auf über 200 Seiten Dialektbegriffe vorstellt. Ursprünglich war das Buch als eine reine Sammlung für seine Tochter gedacht, die vor rund 50 Jahren als kleines 4-jähriges Mädchen aus dem Kindergarten das Sankt-Martins-Lied „Vom hellije Zente Meertes“ mitbrachte und sang. Allerdings traf sie nicht die mundartlichen Besonderheiten – was wenig verwunderlich war, da Steinhauer und seine Frau sie auf Hochdeutsch erzogen, ein Dialekt war damals verpönt. Dennoch war es ihm wichtig, den Dialekt weiterzugeben – und so sammelte er über Jahre in Gesprächen mit anderen Einheimischen Wörter und Begriffe des Birlinghover Platt. Neben dem reinen Wörterbuch sind dabei insgesamt fünf Bücher rausgekommen, mit lokalhistorischen Geschichten, Gedichten und Sagen – Josef Steinhauer ist damit vermutlich der wichtigste Chronist Birlinghovens. (ga.de)


6. Denglisch

Mindset und Narrativ

In seiner Wochenend-Kolumne der Wuppertaler Rundschau geht Redaktionsleiter Roderich Trapp diesmal sprachkritisch zu Werke. Insbesondere regt Trapp sich über eine Ankündigung eines Tanztheaters im Wuppertaler Opernhaus auf: „Über ein kaleidoskopisches Narrativ, geprägt von sehr sinnlichen und hochenergetischen Tänzen, lotet (Choreograph Rainer) Behr gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern Zonen des Übergangs aus, oszillierend zwischen Wahrnehmungen einer von apokalyptischen Szenarien bedrohten Welt und zukunftsweisenden Sehnsüchten“, heißt es darin. Uns begegnet hier „eines der schlimmsten Modewörter des Jahrzehnts: das ‚Narrativ‘“, findet Trapp. Aus keinem großen Unternehmen mehr wegzudenken sei außerdem das „Mindset“. „Jahrzehntelang sind wir mit Topfset und Tischset ausgekommen, jetzt brauchen wir offensichtlich auch noch ein Mindset“, schreibt Trapp. Früher war das einfach eine „Einstellung“ oder „Haltung“. (wuppertaler-rundschau.de)

Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten der vergangenen Woche zur deutschen Sprache. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke

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