Infobrief vom 4. Dezember 2022: Sprachnotstand in der Schweiz

1. Presseschau

Sprachnotstand in der Schweiz

Thomas Renggli bemängelt in Die Weltwoche den „Sprachnotstand“ an Schweizer Schulen. Die Festigung von Deutschkenntnissen stehe laut Renggli nicht einmal in der Grundschule an erster Stelle. Bereits in der 2. Klasse beginne der Fremdsprachenunterricht im Fach Englisch. Ab der 5. Klasse folge dann Französisch. Die Anforderungen im Deutschunterricht sinken laut Renggli, da Diktate und schriftliche Arbeiten mittlerweile eine Seltenheit seien. Die Sprachsensibilität sei bei den Schülern zwar gegeben, jedoch wolle man die Schüler durch komplexe Schreibaufgaben nicht „frustrieren“. Der Rechtsprofessor Alain Griffel an der Universität Zürich sagt, dass selbst bei Studenten die Sprachkompetenz zu wünschen übrig lasse: „Zahllose elementare Orthografie-, Grammatik- und Kommafehler! Satzbau und Formulierungen, überwiegend ungelenk bis fehlerhaft“. Laut Renggli richten sich „die ‚Sprachbemühungen‘ (..) vermehrt auf die Vermeidung diskriminierender, ausgrenzender Bezeichnungen.“ Kurzum: „Genderwahn und Woke-Hysterie zerstören die Sprachkultur.“ Hinzu kämen die steigenden Zahlen der Migration und der dementsprechend sinkende Anteil deutscher Muttersprachler, die zum Sprachnotstand beitragen. (weltwoche.ch)


Das versendet sich doch

Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp bemängelt den Umgang mit der Sprache im Deutschlandfunk Kultur. In der FAZ analysiert er eine Gesprächssendung über Ernst Jünger. Besonders fällt ihm das Wörtchen „so“ auf, zum Beispiel: „Das hat so wie so eine Einführung funktioniert.“ Kemp stellt fest: „Das ‚so‘ ist pandemisch. ‚So‘ ist das neue ‚äh‘.“ Das „so“ solle nur etwas andeuten, könnte aber noch eine Spur von Sachgehalt in sich bergen. Weitere „apodiktische Trendwörter“ seien „absolut“, „ganz“, „to­tal“, „genau“, „immer“, „auf jeden Fall“ oder auch „alles“. Solche Wörter legten sich wie Mehltau über Aussagen, die Sachaussagen sein könnten und die Darstellungsfunktion der Sprache nutzen, so Kemp.

Sprach- und medienkritisch geht es auch beim hier gerügten Deutschlandfunk Kultur zu. Das Wort „Studie“ sei inflationär. Sobald zu einem Thema irgendwelche Auswertungen vorliegen, werden sie in manchen Medien zur „Studie“ geadelt. Im Zweifelsfall sollten Medien differenzieren, gegebenenfalls lieber von Umfragen sprechen und deren Auftraggeber nennen. (faz.net (Bezahlschranke), deutschlandfunk.de)


Schweizer Wort des Jahres gekürt

Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) gab am Dienstag das Wort des Jahres der deutschsprachigen Schweiz bekannt. Nach der Analyse von Datenbanken, die den Sprachgebrauch aufzeichnen, und aus Publikumsvorschlägen ergab sich als Gewinner die „Strommangellage“. Das Wort beschreibe eine eventuell zu erwartende Stromknappheit, es wurde allgemein bekannt, nachdem die Regierung für den Fall einer Strommangellage einen Stufenplan mit Nutzungseinschränkungen erstellte. In der französischsprachigen Schweiz wurde nach Protesten und Boykottaufrufen gegen die Fußballweltmeisterschaft in Katar das Wort „boycotter“ zum Wort des Jahres gekürt. (zeit.de)


2. Gendersprache

Hobby der akademischen Jugend

In einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erinnert Alice Schwarzer daran, dass sie es war, die in den Siebzigern das kleine Wort ‚frau‘ eingeführt habe, und zwar mit einem „ironischen Zwinkern“. Nicht, damit man automatisch jedes ‚man‘ durch ‚frau‘ zu ersetzen habe, sondern als Impuls, um Zeichen zu geben, um auch mal zu irritieren. Was hingegen „da jetzt passiert – mit all den _, * und : –, das ist natürlich fern der Lebensrealität.“ Das Gendern sei im Grunde ein „Hobby der akademischen Jugend“. Schwarzer ist überzeugt, viele Autorinnen und Autoren würden das selbst nicht verstehen. Gendern sei eine Sprache, „die das Leben verschleiert, es sind Codes unter Eingeweihten. So etwas ärgert mich, weil das die anderen ausschließt. Ich finde das elitär.“


Fehlschlüsse

FAZ-Politik-Redakteurin Susanne Kusicke sieht in der Gendersprache „eine neue Art der Diskriminierung‟. Frauen solle hier etwas für gut verkauft werden, was ihnen in Wirklichkeit nicht nur nicht helfe, sondern vielleicht sogar schade. „Frauen werden dadurch immer wieder zurückgeworfen auf ihr Frau-Sein, das sie durch ihre gesellschaftliche Emanzipation doch eigentlich überwinden wollen, zumindest in sozialer Hinsicht‟, schreibt Kusicke. Das Unbehagen bei diesem Thema resultiere aus zwei Fehlschlüssen: Linguistisch sei es schlichtweg falsch, das grammatikalische Genus mit dem biologischen Geschlecht zu verknüpfen, und ein ideologisch bedingter Fehlschluss sei die Annahme, das Denken könne durch die Sprache verändert werden, während es sich in Wirklichkeit eher umgekehrt verhalte. (faz.net (Bezahlschranke))


Magisches Denken

„Inbrünstiges Streben nach dem Guten“ sei, was uns gut macht, sagt Eric Gujer in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Ob Gendersternchen tatsächlich etwas für die Gleichberechtigung zustande bringen sei Nebensache, aber sie gäben ein gutes Gefühl. Man setze ein Zeichen, und sei es nur eines unter Dutzenden ebenso wichtiger Symbole. Die Lebenserfahrung im Umgang mit konfrontativen Handlungen lehre indes: „Einstellungen ändern sich, wenn Politiker integrieren, statt die Gesellschaft zu polarisieren“, widerlegt Gujer den Zeitgeist. Ohnehin seien die Sternchen lediglich eine Ersatzhandlung, sie enden in einer Euphemismus-Tretmühle oder in Gujers Worten: „Galt früher das Binnen-I als das Mittel der Wahl, um eine Identität auszudrücken, war es anschliessend das Sternchen. Das wird gerade vom Doppelpunkt verdrängt. Im magischen Denken verliert jeder Zauber seine Wirkung, sobald die falschen Zeichen verwendet werden.“ Gendersprache sei nur Heuchelei, sie verschaffe allenfalls ein reines Gewissen. So aber verrate sich Symbolpolitik als „bequemer Ausweg, wenn sich die Verbesserung der Welt mühsamer anlässt als erhofft.“ (nzz.ch)

3. Kultur

Das Erzgebirgswort des Jahres

In der vergangenen Woche wurde in Thum zum sechsten Mal das Erzgebirgswort des Jahres gekürt. Die Mundart des Erzgebirges gilt als wichtiges bedrohtes Kulturgut. „Nausbelzen“, ungefähr übersetzbar mit „aus der Stube raus in die Natur treiben“, ist das Siegerwort, es beschreibt eine erzgebirgische Eigenheit. „Die sitzen ja immer nur vor der Kiste“, erklärt Carmen Krüger vom Erzgebirgsverein. Das Wort „belzen“ findet sich auch im Grimmschen Wörterbuch. Dabei habe das Wort nichts mit Pelz oder Haut zu tun, sondern eher mit der Balz. Der Duden bietet eine moderne Übersetzung. „Belzen“ wird hierbei als „sich vor der Arbeit drücken“ erklärt. Dieser Ansatz sei auch im Erzgebirgswort „nausbelzen“ enthalten. Das „naus“ in „nausbelzen“ stehe dialektal für „raus“. Der Wettbewerb zum Erzgebirgswort des Jahres ist eine Initiative der Tageszeitung Freie Presse und des Erzgebirgsvereins zur Konservierung der Mundart. (mdr.de)


Literaturpreis für niederdeutsche Sprachwissenschaftler

Der Fritz-Reuter-Literaturpreis ehrt seit 1999 Menschen, die mit ihrem Engagement zur Verbreitung der niederdeutschen Sprache beitragen. Die Sprachwissenschaftler Birte Arendt und Robert Langhanke haben vergangenen Freitag die Auszeichnung erhalten. Ihr gemeinsames Buch „Niederdeutschdidaktik“ erklärt, wie Plattdeutsch derzeit unterrichtet wird und wie die niederdeutsche Sprache in Zukunft attraktiver gemacht werden könne. Der Erhalt des Plattdeutschen liegt den Autoren am Herzen, mit diesem Buch solle es aktiv als Sprache an Schulen, Universitäten und Kindertagesstätten vermittelt werden. Die Ehrung erfolgte traditionell festlich im Schloss des Heimatortes von Dichter Fritz Reuter in Stavenhagen. (ndr.de)


Märchenhafter Vorlesetag

Der bundesweite Vorlesetag am 18. November soll Kinder und Erwachsene für die Bedeutung des Vorlesens begeistern. Im ostwestfälischen Borgenteich, Kreis Höxter, wurde dafür an diesem Tag in der Zentralen Unterbringungseinrichtung für Flüchtlinge eine Vorleseaktion unter dem Motto „gemeinsam einzigartig“ veranstaltet. Lehrer und professionelle Märchenerzähler trugen hierbei arabische und deutsche Märchen vor, die offenbar gemeinsame kulturelle Werte hervorheben. Die Eltern der anwesenden Kinder trugen zum Schluss noch Geschichten in den jeweiligen Muttersprachen vor. Filiz Elüstü, Leiterin des Kommunalen Integrationszentrums Höxter betont, dass Sprachförderung nicht nur in der deutschen, sondern auch in der jeweiligen Muttersprache stattfinden solle. Vorlesen schaffe eine einzigartige Verbindung zwischen Eltern und Kindern. Die Stiftung Lesen spendete für den Aktionstag Büchergeschenke, die anschließend verteilt wurden, womit das Vorlesen im Elternhaus animiert werden soll. (westfalen-blatt.de)


4. Berichte

Sprache als Geschenk

Gesellschafts- und Brettspiele sind in der Weihnachtszeit besonders beliebt, da sie Menschen aller Generationen zusammenbringen. Spiele, die Sprache und Wörter als wesentliches Spielelement einsetzen, sind mittlerweile weitverbreitet. Damit in diesem Jahr jedoch nicht nur Scrabble unter dem Weihnachtsbaum landet, stellt Michael Kühnapfel auf dem VDS-Blog kultürlich.de weitere Wort- und Sprachspiele vor, die auf der größten Spielemesse der Welt, SPIEL, in Essen zu finden waren. (kultürlich.de)


5. Denglisch

Black Friday

Der „Black Friday“ lockte am vergangenen Freitag die Menschen in die Innenstädte. Eva-Maria Magel erklärt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der schwarze Freitag zwar ursprünglich eine kulturelle Aneignung der USA gewesen sei, nun aber als Synonym für Konsum und Geld stehe. Die Werbebotschaften des „schwarzen Novembers“ geschähen im internationalen Vergleich fast ausschließlich auf Englisch. Der „Black Friday“, „Cyber Monday“ oder auch die „Black Week“ locken Menschen mit ihren „Deals“ zum „shopping“ an, wobei laut Magel nicht nur beim Einkauf, sondern auch an der sprachlichen Vielfalt gespart werde. Die Rabattaktion verbillige die englische Sprache und mache sie für den deutschen Konsumenten zu einem bequemen Produkt. (faz.net)


6. Kommentar

Kein Deutsch für IT-Fachkräfte

Für IT-Fachkräfte gelten in Deutschland bereits Sonderregeln, künftig sollen sie auch nicht mehr nachweisen müssen, dass ihre Deutschkenntnisse genügen, berichtet die Neue Zürcher Zeitung und kommentiert: Noch wichtiger als Sprachkenntnisse seien im internationalen Wettbewerb Kenntnisse in Programmiersprachen. Ein Land, das besonders umkämpfte Fachkräfte anziehen wolle, müsse pragmatisch sein.

Wenn da mal nicht nach scheinbar neuen Motiven gesucht wird, weshalb Englisch wichtiger als Deutsch sei. Die sogenannte Schnittstelle zwischen Anbieter und Verbraucher, nämlich die Verständigung am virtuellen Marktstand im Netz, setzt voraus, dass beispielsweise die Schöpfer eines Netzauftritts mit den erwünschten Besuchern überhaupt fähig zur Kommunikation sind: Das wäre in der jeweiligen Landessprache (in Albanien das Albanische, in Deutschland das Deutsche). Angesichts der Vielzahl schlecht programmierter Netzseiten darf man vermuten, dass Anbieter und Kunden aneinander vorbei leben. Die Kunden verstehen allzu häufig nicht, wie sie sich gefälligst auf der Netzseite zu verhalten haben, und die Anbieter (die IT-Leute) interessieren sich gar nicht erst für die Kunden, dafür müssten sie nämlich die Landessprache beherrschen. (nzz.ch)


Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion wider.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke, Jeanette Zangs

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