Infobrief vom 11. Dezember 2022: Steiniger Weg zum japanisch-deutschen Wörterbuch

1. Presseschau

Steiniger Weg zum japanisch-deutschen Wörterbuch

Nach 25 Jahren lexikographischer Arbeit ist die Neubearbeitung des „Großen japanisch-deutschen Wörterbuchs“ des Tokioter Germanisten Kinji Kimura (1889-1948) endlich fertiggestellt worden; der letzte Band „O-Z‟ mit einem Gewicht von 2,4 Kilo wurde nun im Verlag Iudicum veröffentlicht. Ursprünglich war geplant, die Neuauflage in fünf Jahren fertigzustellen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erklärt Mitherausgeber Jürgen Stalph den „steinigen Weg“, der zu gehen war, um ein Wörterbuch mit dem dreifachen Umfang des Vorgängers zu erschaffen. „Außer Lexikographen glaubt einem ja niemand, wie schwer, wie niederschmetternd, wie wenn auch bisweilen natürlich aufregend und schön, belastend diese Arbeit ist, wenn man sie Tag für Tag zu tun hat, und wie sehr sie einen auszehrt“, so Stalph. Das Gesamtwerk eröffnet einen Wortschatz von mehr als 130.000 Stichwörtern, umfänglich belegt mit einer Fülle von Verweisen, welche eine „vor allem anschauliche Sprachwelt“ um den gesuchten Begriff zugänglich machen. „Übersetzer, Japanologen und Sprachbegeisterte werden ehrfürchtig vor den Bänden stehen“. So ließen sich sprachliche oder kulturelle Leerstellen überbrücken und die feinen Unterschiede zwischen Sprachen anhand kleinster Einheiten markieren, schreibt die FAZ. Außerdem leiste das Wörterbuch einen Beitrag, um „Übersetzerblödsinn zu vermeiden“, so Jürgen Stalph. (faz.net)


Genderkrise des ÖRR

„Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk treibt einen Keil zwischen sich und seine Nutzer“, schreibt Fabian Payr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und kritisiert damit den sprachpolitischen Eifer der Sender bei der Verwendung von Gendersprache. 350 Sprach- und Literaturwissenschaftler hatten Ende Juli einen Aufruf gegen die Genderpraxis des ÖRR eingereicht. Payr erinnert an das beachtliche Echo in der Presse, aber die Sender haben sich bis heute inhaltlich nicht auf den Protest der Wissenschaftler eingelassen, es gibt lediglich einen Standardbrief: „Das ZDF möchte diskriminierungsfrei kommunizieren und achtet dabei darauf, wie sich Gesellschaft und Sprache verändern“.

Auch der ehemalige SWR-Intendant Peter Voß äußert sich in der FAZ zur Genderpraxis. Vor allem sei es ein Aberglaube, dass Sprache ein Macht- und Herrschaftsinstrument zulasten der „Unterdrückten“ sei. Gendern ist Symbolpolitik: „Man ändert damit nichts an der Lage der Betroffenen, etwa benachteiligter Frauen, verschafft sich aber das Alibi des guten Gewissens, wenn nicht gar den Status des aktivistischen Helden (…).“

Gender-Befürwortern sei vielleicht nicht bewusst, dass Sprachregeln auch für den Schulunterricht gelten sowie für alle, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Diese Regeln ermöglichten Integration – dass gerade Medien diese Regeln brechen, verunsichere Lernende nur unnötig. Außerdem beweise es ein befremdliches Verständnis von demokratischem Handeln: „Und wie (wollen wir) ihnen vermitteln, dass man legitime und legal entstandene Regeln zu beachten hat, auch wenn sie einem nicht passen? Ich war bisher der wohl naiven Meinung, dass man als Demokrat geltende Regeln und geltendes Recht nicht auf eigene Faust ändert, sondern im öffentlichen Diskurs für seine Position wirbt, um sie mehrheitsfähig zu ma­chen.“ (faz.net (Bezahlschranke), faz.net (Bezahlschranke))


Englisch zählt in Italien nicht

An der Universität in Triest wurde eine Forschungsstelle nicht an die erstplatzierte Bewerberin vergeben, weil sie ihren Lebenslauf nur auf Englisch eingereicht hatte. Der zweitplatzierte Forscher hatte diesen Fehler im Ausschreibungsverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht beklagt und Recht bekommen. Die Vorlage eines fremdsprachigen Dokuments ist in Italien bei öffentlichen Ausschreibungen nicht zulässig, denn die Amtssprache ist Italienisch. Das Verwaltungsgericht beruft sich auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2017, in dem festgestellt wird, dass „die Sprache ein grundlegendes Element der kulturellen Identität“ ist. (italofonia.info)


Freudenfreude

Die New York Times hat ihren Lesern kürzlich ein in Deutschland anscheinend gebräuchliches Wort vorgestellt. Mit „Freudenfreude“ beschreibe man im Deutschen „die Glückseligkeit, die wir empfinden, wenn jemand anderes Erfolg hat“, so etwas wie das Gegenteil zur Schadenfreude, einem weltweit längst etablierten Germanismus. Nicht nur der Süddeutschen Zeitung fiel jedoch auf, dass das Wort bereits in anderen internationalen Zeitungen zu finden war, während es hierzulande weitestgehend unbekannt ist. Tatsächlich hat Catherine Chambliss das Wort bereits 2018 in dem Leitartikel “The Role of Freudenfreude and Schadenfreude in Depression“ im World Journal of Psychiatry and Mental Health Research vorgestellt. Beide Varianten der Freude erfüllten demnach einen hilfreichen Zweck in unserem Leben; sein eigenes Wohlbefinden könne man durch Freudenfreude allerdings merklich verbessern. The Local erinnert in diesem Zusammenhang an zwei allgegenwärtige Germanismen mit besonders hohem Nutzwert, den „Zeitgeist“ und die „Wanderlust“. Solche Wörter seien im Deutschen so einfach herstellbar. Dem sei hinzugefügt: Diesen Vorzug unserer Sprache vergisst man allzu gerne, während man die englische Sprache für ihre globale Anwendbarkeit preist. Komposita, mit denen Wahrnehmung und Erkenntnis beflügelt werden, ziehen wir aus dem Handgelenk. Das fällt den Autoren in The Local auf. (sueddeutsche.de, remedypublications.com (PDF-Datei), thelocal.de)


2. Gendersprache

Gesellschaftlicher Glanz garantiert

In einem Beitrag über die Verbreitung des Gendersternchens und der damit verwandten Zeichen schreibt Claudia Mäder in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), die Feministinnen der älteren Garde seien damit überflügelt worden. Frauen gewännen jedoch durch Sternchen oder Unterstriche nichts, monierte schon 2016 die streitbare Feministin Luise Pusch, im Gegenteil: „Erneut würden sie als reines Wortanhängsel, als abgeleitete Form ‚auf dem Abstellgleis‘ landen.“ Ohnehin gebe es für die Wirkung des Sternchens keine wissenschaftliche Evidenz, fährt Mäder fort. Ob an einen nonbinären Menschen gedacht wird, wenn einem im Text „ein*e Leser*in“ begegnet, sei jedenfalls nicht erhoben. Dass ein derart verschwommenes Symbol den gesamten deutschen Sprachraum eroberte, sei erstaunlich, schließt Mäder, aber „womöglich begründet gerade die Unschärfe auch den Erfolg des Symbols: Es reicht, die eigenen Wörter mit einem Sternchen zu garnieren, um mit einer „irgendwie fortschrittlichen Haltung“ zu glänzen. (nzz.ch)


3. Sprachspiele: zeitgleich oder gleichzeitig?

Gelegentlich machen mir Leser Vorschläge, was ich einmal in einer Glosse behandeln solle. Ich sammle sie und prüfe sie nach zwei Kriterien: interessantes Thema? Machbar mit Bordmitteln? Mit meinem Fachwissen, mit Internet und einer kleinen Fachbibliothek. Beides muss passen. Oft stellt sich erst bei der Arbeit heraus, ob es sich gelohnt hat.

Bei zeitgleich und gleichzeitig lockt die verschiedene Bildung bei fast gleicher Bedeutung. Das belegen die Wörterbücher. So steht bei zeitgleich die Bedeutungsangabe ‚gleichzeitig‘. Es gibt nur einen kleinen Unterschied: zeitgleich hat die zweite Verwendung ‚mit gleicher Zeit‘. Gemeint ist die Zeitmessung bei einem Laufwettbewerb. So mag ein Sportbericht lauten: „die Läufer kamen zeitgleich ans Ziel, genau nach 11,00 Sekunden“. Zuschauer sahen nur: Sie kamen gleichzeitig an. Ob es zeitgleich war, verrät erst die Stoppuhr. Diese Verwendung ist auf den Sport beschränkt und wohl relativ jung.

Sprachgeschichtlich unterscheiden sich gleichzeitig und zeitgleich nicht. Beide sind im 17. Jahrhundert zuerst belegt. Sie waren Konkurrenten. Aber nur gleichzeitig war erfolgreich und kommt heute sehr häufig in verschiedenen Verwendungen vor, wie das Grimmsche Wörterbuch (Band IV, 1949) ausführlich beschreibt. Zeitgleich wird dort nur mit einer Zeile erwähnt.

Bleibt die unterschiedliche Wortbildung. Und hier wird es interessant. Gleichzeitig ist eine Ableitung des Syntagmas gleiche Zeit mit dem häufigen Adjektivsuffix –ig. Vergleichbar sind z. B. glatzköpfig, kurzbeinig, fünfstellig. Dagegen ist zeitgleich ein Kompositum aus dem Adjektiv gleich und dem vorangestellten Substantiv Zeit. Vergleichbare Bildungen sind fußkalt, lebenswert, systemrelevant. Fußkalt könnte man paraphrasieren als ‚kalt am Fuß‘. Fuß ist mit der Präposition am an das Adjektiv kalt gebunden. Auch hier liegt der Wortbildung ein Syntagma zu Grunde.

Wir sehen unterschiedliche Wortbildungsmodelle, Ableitung und Zusammensetzung, die zur gleichen Bedeutung führen. Und wir sehen, dass sich diese beiden Haupttypen der Wortbildung nicht nur ergänzen, sondern auch in Konkurrenz stehen können. Gleichzeitig mit dem frequenten Suffix –ig war der Sieger. Doch bis heute hat sich zeitgleich als selteneres Synonym erhalten und in der Zeitmessung eine dauerhafte eigene Bleibe gefunden.

Rückblickend: kein umwerfendes Thema für eine Glosse. Auch das musste mal gezeigt werden.

Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de.


4. Kultur

Der Wandel des Frankfurterischen

Sprachforscher Carsten Keil untersucht, wie sich die Frankfurter Mundart im Laufe der Zeit verändert hat. Keil, hauptberuflich in der Vermögensverwaltung tätig und Kooptierter des Deutschen Sprachatlas, versucht den „untergegangenen Frankfurter Stadtdialekt“ zu dokumentieren. Hierfür unterscheidet Keil für die Frankfurter Sprache drei Zeitabschnitte. Das heute gesprochene Neu-Frankfurterisch, das klassische Frankfurterisch aus der Zeit um 1920 und das laut Keil untergegangene alte Frankfurterisch aus der Zeit um 1850. Begriffe wie „Fraind“, „Daiwwl“, „Flesch“ oder „Pert“ zählen zum alten Frankfurterisch. Keil erklärt, dass das Frankfurterische durch 50 verschiedene Kriterien zu bestimmen sei, etwa die andere Aussprache von „nicht“, „das“ und „wir“ oder das abfallende „e“ oder „n“, beispielsweise beim Wort essen. Die Kriterien haben sich im Laufe der Zeit jedoch verändert, beschreibt Keil. „Fliegen“ wurde früher als „flieje“ oder „morgen“ als „mooaje“ ausgesprochen, nun seien aber die Aussprachen „fliesche“ und „moasche“ gebräuchlich. Seine Entdeckungen dokumentiert Keil in einem „Frankfurter Aussprachewörterbuch.“ (fr.de)


Richtig schimpfen

Beschimpfungen und Beleidigungen gehören zur sprachlichen Ausrüstung des Menschen und werden hin und wieder von jedem einmal verwendet. Sprachwissenschaftler Professor Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität in Berlin erklärt im Interview mit Bremen-Eins, welche Schimpfwörter erlaubt sind und welche nicht. Stefanowitsch beschreibt, dass „Dampf ablassen“ normal sei und es durchaus Situationen gebe, wo die Verwendung von Beleidigungen nachvollziehbar sei. Wichtig sei es die Wut nicht an unbeteiligten Personen auszulassen, beispielsweise wenn man jemanden als „behindert“ oder „Behindi“ bezeichne. Beleidigungen wie der „Schwachmat“ oder die „Kackbratze“ zielen auf eine bestimmte Person, und auch wenn diese Beispiele nicht zum netten Umgangston gehören, seien sie in den eigenen vier Wänden oder im Auto vertretbar. Grundsätzlich sei es ratsam sich in eine innere, friedliche Stimmung zu begeben, anstatt die Wut durch Schimpfwörter zu manifestieren. (butenunbinnen.de)


5. Berichte

Weniger Zwang beim Gendern

VDS-Vorstandsmitglied Claus Maas war Gastteilnehmer bei einer Podiumsdiskussion an einem Gymnasium in Wuppertal. Thema: Gendersprache in der Schule. Die Veranstaltung war von der Schülervertretung organisiert, zwei angehende Abiturientinnen leiteten das Gespräch. Die Pro- und Contra-Meinungen der Vertreter auf dem Podium hielten sich die Waage. Eine Stadträtin der Grünen (Lehramtsstudentin) beklagte, dass sie bei ihrer Arbeit mehr gendern wolle als sie dürfe. Ein Germanist von der Universität Wuppertal riet dazu, die Frage der Geschlechtergerechtigkeit mehr dem natürlichen Sprachwandel zu überlassen und weniger erzwingen zu wollen. „Insgesamt fand das Gespräch auf einem ansprechenden Niveau und in entspannter, angenehmer Atmosphäre statt‟, berichtet Claus Maas. (vds-ev.de)


6. Denglisch

Unverständliche Projekte

Die Kreisverwaltung Lippe verwendet zu viel Denglisch – dieser Ansicht ist die Kreistagsfraktion Freie Wähler/Aufbruch C. Es gebe „eine Fülle an Projekten, die unter englischsprachigen Begriffen geführt werden, die schwer verständlich sind“, heißt es in einer Pressemitteilung. Beispiele: Evolving Regions, Innovationspin, Kungfu – Kunststoff goes Future, Skillslab, Re-Build-OWL, Rebirth active school – village, Pimp-your-town. Work & Care. „Versuchen Sie einmal mit Ihrem Nachbarn über diese Titel ins Gespräch zu kommen“, sagt Fraktionsvorsitzender Andreas Epp und fordert die Kreisverwaltung auf, bei kreiseigenen Projektbezeichnungen aus Gründen der Verständlichkeit auf deutsche Titel zurückzugreifen. (lz.de)


7. Kommentar

Wissenschaft ist verzichtbar

Inhaltlich bieten sie nichts gegen den Aufruf der 350 Wissenschaftler, jedenfalls kommen von den Sendern nur Textbausteine, die an der Sache vorbei gehen. Die Wikipedia-Redakteure meinen sogar nachweisen zu müssen, dass nicht alle 350 Personen Linguisten seien, einige sogar von einem anderen Fach, also bloß Akademiker, Gott wie peinlich! Dabei spielt diese Klassifizierung keine Rolle, denn beide, die Genderbewegten bei den Sendern und der Wikipedia, glänzen mit ihrer Grandezza der Respektlosigkeit gegenüber einer Reihe renommierter Wissenschaftler, indem sie deren Erkenntnisse für verzichtbar halten, sonst würden sie ja darauf eingehen. So aber unterstellen sie, dass mit wissenschaftlicher Sorgfalt erarbeitete Auffassungen nicht nur unerheblich seien, sondern sogar fehlerhaft, worüber man am besten diskret schweigen möge. Diese Haltung könnte den gebührenzahlenden Hörern schon ein bisserl blasiert vorkommen – oder besoffen wie der Schütze, der in die Gegend ballert statt auf die Tontauben. Obendrein komisch ist das Missverständnis, man könne nur mit Gendersprache „diskriminierungsfrei kommunizieren“, und eine oft wiederholte, immer noch nicht stimmige Behauptung bleibt, dass „sich Gesellschaft und Sprache verändern“. Nein, liebe Leute, verändern (aktiv) kann sich nur die Gesellschaft, die Sprache wird von der Gesellschaft verändert (passiv). Das zu verstehen kann so schwer nicht sein. (Oliver Baer)


Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion wider.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke, Jeanette Zangs

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