Infobrief vom 17. April 2020: Sprache in der Krise

1. Presseschau

Sprache in der Krise

Die Corona-Krise hat neue Begriffe hervorgebracht, darunter Anglizismen wie „Lockdown“ und „Social Distancing“. „Müssten da nicht deutschsprachige Wortschöpfer mal aktiv werden?“, fragt Steffen Kolodziej vom SR2-Kulturradio im Interview mit Dr. Annette Klosa-Kückelhaus vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache. Statt „Social Distancing“ werde auch von sozialer Distanzierung oder räumlicher Trennung gesprochen, so Klosa-Kückelhaus. Generell gebe es eine Tendenz, in der aktuellen Situation mit Anglizismen zu arbeiten, glücklich sei sie damit aber nicht immer. Auch andere Sprachen liefern Begriffe: So wurde aus dem Französischen die „Triage“ genommen, welche ursprünglich aus Kriegszeiten bekannt ist und das „Aussortieren von Patienten“ beschreibt. Unklar ist, ob diese Begriffe uns immer als Corona-Begriffe im Kopf bleiben werden oder ob wir sie irgendwann wieder unabhängig von der Krise wahrnehmen können. Wörter wie Mundschutz oder Geisterspiel, so Klosa-Kückelhaus, seien schon lange vorher aus anderen Zusammenhängen bekannt gewesen.

Wie hat Corona die italienische Sprache seit dem Auftauchen des Virus geändert und geprägt? Der Frage geht aktuell Prof. Dr. Daniela Pietrini, Romanistin an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, auf den Grund. In einer ersten Untersuchung hat sie Begriffe, Wortschöpfungen und Stilmittel untersucht. Dabei ist ihr aufgefallen, dass der Präsident Emmanuel Macron auf eine starke Kriegsmetaphorik setzt. Das Wort „guerre“, also „Krieg“, kommt in seiner ersten Ansprache an die Nation gleich siebenmal vor. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel verwendete es einmal, der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte verzichtete ganz darauf. Auch Wortneuschöpfungen wie „covidiota“ hätten sich etabliert: Es bezeichnet jemanden, der sich nicht an die empfohlenen Maßnahmen hält und das Risiko der Verbreitung des Virus erhöht, so Petrini. Die Italiener sind im Rahmen der Corona-Krise auch vor Anglizismen nicht mehr sicher: „Lockdown“ sei ein völlig neues Wort, das immer häufiger genutzt werde. (sr.de, idw-online.de)


Die Illusion der Einfachheit

Die Versicherungsbranche ist wohl eine der Sparten, in denen Sprache kompliziert und für Laien unverständlich gehandhabt wird. Das ist zum einen nachvollziehbar, sagt der Sprachtrainer Oliver Haug, weil Versicherungspolicen und die einzelnen Produkte komplex sind und genau beschrieben werden müssen. Dennoch haben sich viele Versicherungen in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, um ihre Korrespondenz und Verträge sprachlich einfacher zu halten. Aber solche Schriftstücke könnten noch verständlicher werden. Häufig stehen sich die Versicherungen dabei selbst im Weg. Sie wollen zwar einerseits einen zufriedenen Kunden, der ihr Anliegen versteht, fürchten aber, ihm mit einfacherer Sprache gleichzeitig zu suggerieren, dass sie ihn nicht für intelligent genug halten, komplexe Texte zu verstehen. Dazu kommt die „Illusion der Einfachheit“, wie Haug es nennt: Der Experte verkennt, dass sein Sprachgebrauch aus Fachbegriffen besteht, die der Laie nicht versteht. Als erster Schritt wäre da ein Problembewusstsein zu schaffen und zu lernen, wie man sich in die Lage des Gegenüber hineinversetzt. (procontra-online.de)


Zwingend auf Deutsch

Fast jeder hat es schon erlebt, dass Bedienungsanleitungen bestenfalls für Lacher sorgen, anstatt die Funktionen oder den Aufbau eines Gerätes zu erklären. Bei Produkten, die weltweit vermarktet werden, ist die Anleitung häufig das Ergebnis einer offensichtlich automatischen Übersetzung. Das Landgericht Essen hat nun geurteilt, dass Verkäufer sogar rechtswidrig handeln, wenn sie zu einem Produkt keine deutschsprachige Anleitung mitliefern können. (onlinehaendler-news.de)


Krisenkommunikation will gelernt sein

Über Corona sprechen, ohne Ängste zu schüren – das ist schwierig, aber machbar, meint der Kommunikationsberater Murtaza Akbar. Er berät Firmen in Sachen (Krisen-)Kommunikation. Beispielhaft zeigt die Corona-Krise, dass es wichtig ist, die Dinge klar beim Namen zu nennen und Zusammenhänge transparent zu machen. Begriffe oder Floskeln hingegen, die Angst einflößen (zum Beispiel „wie Lämmer zur Schlachtbank“), würden beim Rezipienten Sorgen schüren, statt zu beruhigen und auf eine objektive Ebene zu bringen. Empathie und Verständnis seien die besseren Wegbegleiter, um durch die Corona-Zeit zu kommen.(fr.de)


2. Unser Deutsch

älter = jünger?

Wie alt ist ein älterer Herr? Er ist keineswegs älter als ein alter Herr, sondern ‚noch nicht so alt‘ oder ‚weniger alt‘. Ähnlich geht es der jüngeren Dame: Sie ist nicht mehr ganz jung, aber bestimmt noch nicht alt. Und ein weiteres Beispiel: Die nähere Umgebung ist etwas weiter weg als die nahe Umgebung. So könnte man die Entfernung von einem Ort etwa so reihen: nahe Umgebung, nähere Umgebung, weitere Umgebung. Danach hört die Umgebung auf, es beginnt die Ferne.

Zwei Feststellungen können wir machen: Der Komparativ eines Adjektivs ist nicht immer, wie es in der Übersetzung dieses grammatischen Terminus heißt, eine ‚Steigerungsform‘. Er kann sozusagen auch eine ‚Minderungsform‘ sein. Wie erklärt sich das? Dazu muss man etwas ausholen und erläutern, was es mit den Komparativformen auf sich hat. Im Regelfall stellt man damit einen Vergleich an, häufig auch mit der Vergleichspartikel als: „Hans ist größer als Klaus“. Dabei gibt der Komparativ eine Steigerung der Grundbedeutung des Adjektivs an. Am häufigsten begegnet dieser in quantitativer Hinsicht (kleiner, länger, höher, tiefer) oder in qualitativer Hinsicht (schöner, besser, intelligenter, süßer).

Ganz anders liegt es bei unserem besonderen Fall. Die Grammatiken sprechen hier von einer Erwartungsnorm, auf die sich die Äußerung bezieht. Bei einer längeren Reise geht es um eine Reise, die etwas länger dauert als üblich. Ebenso ist ein kühlerer Tag einer, an dem es kühler ist als zu dieser Jahreszeit üblich. Unsere ersten Beispiele lassen sich jetzt so erklären: Ein älterer Herr liegt altersmäßig etwas über der Norm des Mannesalters. Und die jüngere Dame etwas über jener einer jungen Dame.

Jetzt können wir auch erklären, wie folgender scheinbar widersprüchlicher Satz zustande kommt: „Ein älterer Herr ist jünger als ein alter.“Der Komparativ älter nimmt vergleichend Bezug auf ein Durchschnittsalter, das der Betreffende überschreitet. Die Positivform alt dagegen macht eine absolute Aussage. Nur scheinbar ist älter in diesem Satz eine Steigerung von alt.

Übrigens erkennt man diese besondere ‚mindernde‘ Form des Komparativs auch daran, dass das Bezugsobjekt, um dessen Normgröße es geht, zumeist genannt wird: ein älterer Herr, eine jüngere Dame, die nähere Umgebung, ein kühlerer Tag, eine kürzere Reise.

Die aktuelle Bedeutung einer Wortform, so lernen wir, kann auf ganze Erwartungshorizonte einer Kulturgemeinschaft Bezug nehmen. Nur wer diese kennt, versteht, dass ein älterer Herr nicht älter ist, sondern jünger als ein alter Herr.
Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an:
horst.munske@fau.de


3. Kultur

Wortwitz im Comic

Feinheiten einer Sprache in eine andere zu übersetzen ist schon bei Romanen und Fachbüchern schwierig. Bei Comics kommt hinzu, dass der Platz in einer Sprechblase beschränkt ist und der Wortwitz dennoch sitzen muss. Übersetzer von Comics stehen daher immer aufs Neue vor Herausforderungen. Frank B. Neubauer findet es zum Beispiel wichtig, „dem Volk aufs Maul“ zu schauen. Alltagssprache, vor allem die der Jugendlichen, sei häufig geeignet, um einen Comic-Text übersetzen zu können. Katharina Erben bewundert die Möglichkeiten der deutschen Sprache, was die Vielfältigkeit der sprachlichen Ausdrücke betrifft. Auf Deutsch gebe es häufig mehr Möglichkeiten, etwas zu beschreiben als im Schwedischen. (goethe.de)


4. Denglisch

Eigentor: Deutsche Welle rät zu Denglisch

Denglisch sprechen will gelernt sein, meint die Deutsche Welle und veröffentlicht einen kleinen Ratgeber für Ausländer. Vor allem Pseudoanglizismen – also Begriffe, die ihren Ursprung zwar im Englischen haben, sich aber in ihrer Bedeutung vom englischen Wort unterscheiden – können verwirren. Um Fehlern vorzubeugen, rät die Deutsche Welle, aktiv Denglisch zu lernen. Man solle Unterhaltungen bewusst zuhören, am besten noch Radiosendungen oder Podcasts hören, und sich außerdem in Deutschland umsehen – denn hier gebe es überall Plakate, Broschüren oder Schilder, die Anglizismen enthalten. Auch für Ausländer, die sich gerade nicht in Deutschland befinden, gibt es einen Tipp: das Abonnieren von Firmen-Newslettern. Dort sei Denglisch besonders gut zu lernen. Scheint, als würde Denglisch immer mehr zu einer eigenen Sprache mutieren. Was kommt als nächstes? Denglisch-Sprachkurse? (dw.com)


5. Termine

ABGESAGT! 20. April, Region 06/39 (Halle/Magdeburg)
REDEZEIT – Treffen von Referenten und interessierten Sprachfreunden
Zeit: 18:00 Uhr
Ort: Leucorea, Collegienstr. 62, 06886 Lutherstadt Wittenberg

ABGESAGT! 20. April, Region 20/22 (Hamburg)
Mitgliedertreffen
Zeit: 19:30 Uhr
Ort: Hotel Ibis Alsterring, Pappelallee 61, 22089 Hamburg

ABGESAGT! 21. April, Region 09 (Chemnitz)
Mitgliedertreffen mit Vortrag von Prof. Krämer: Verlierer sprechen Denglisch – die deutsche Sprache und das Geld
Zeit: 17:00 – 19:00 Uhr
Ort: Solaristurm, Neefestr. 88, 09116 Chemnitz

ABGESAGT! 27. April, Region 06/39 (Halle/Magdeburg)
Mitgliedertreffen und Führung durch die Marienbibliothek in Halle (Saale)
Zeit: 17:00 Uhr


IMPRESSUM

Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten der vergangenen Woche zur deutschen Sprache. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln mitunter die Meinung der Redaktion.

Redaktion: Holger Klatte, Alina Letzel, Dorota Wilke

© Verein Deutsche Sprache e. V.

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