Infobrief vom 31. Juli 2022: Audi-Klage abgewiesen

1. Presseschau

Audi-Klage abgewiesen

Das ist ein Rückschlag für die Persönlichkeitsrechte in Deutschland: Die Klage eines VW-Mitarbeiters gegen Audi wegen des dort eingeführten Genderleitfadens ist abgewiesen worden. Der Kläger betonte, er sei für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung. Der Vorsitzende Richter Christoph Hellerbrand betonte, der VW-Mitarbeiter sei aber nicht zur aktiven Nutzung des Leitfadens verpflichtet, denn der Aufruf sei nur an Audi-Mitarbeiter gerichtet, schreibt der Bayerische Rundfunk auf seiner Internetseite. Die passive Betroffenheit des Klägers reichte dem Gericht nicht aus. Es gebe für ihn kein Recht, „in Ruhe gelassen zu werden“, sagte Hellerbrand. Aus Sicht des VDS wird hier mit zweierlei Maß gemessen: Während ein nicht-binärer Mensch bei einem Prozess gegen die Deutsche Bahn erreicht hat, dass er korrekt angesprochen werden muss, darf ein Heterosexueller offenbar dieses Recht nicht für sich beanspruchen. Dass eine respektvolle Ansprache keine Einbahnstraße sein dürfe, darüber wollten die Richter nicht urteilen. „Dass das Gericht nicht den Mut hatte, sich zur Sache zu äußern, ist ein Armutszeugnis“, so Walter Krämer, Vorsitzender des Vereins Deutsche Sprache. Stattdessen wurde herausgestellt, dass der Kläger nur vermeintlich betroffen sei. So wird jedoch unterschlagen, dass allein das Lesen eines gegenderten Textes den Leser sehr wohl passiv betrifft und so auch behindern kann. Der VDS wartet jetzt die schriftliche Urteilsbegründung ab, um anschließend zu entscheiden, ob weitere Rechtsmittel unterstützt werden. (br.de, rnd.de, bild.de, vds-ev.de)


Namensänderung wegen Sprachassistenten

„Wer Siri oder Alexa heißt, hat im Fall seelischer Belastungen das Recht zu einer Namensänderung“, berichtet der Spiegel über ein Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen. Hintergrund ist eine Klage der Eltern eines Mädchens, das den gleichen Namen wie einer der populären, sogenannten „intelligenten“ Sprachassistenten trägt. Zwar wurde die Klage zunächst von der zuständigen Stadtverwaltung abgelehnt, jedoch entschied der Richter, dass das Kind nun seinen Vornamen durch einen zweiten Namen ergänzen darf. Sprachassistenten wie Siri oder Alexa sind meist in Smartphones integriert. Diese Systeme können anhand von natürlich gesprochenen Befehlen verschiedene Tätigkeiten ausführen, beispielsweise recherchieren, die Rollläden schließen oder Musiktitel abspielen. Im Fall des Vorschulkindes meldeten die Eltern mehrere Belästigungsvorwürfe. Dem Mädchen wurden, ähnlich wie bei den Sprachassistenten, wiederholt Anordnungen erteilt. Zwar ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, jedoch begründete das Verwaltungsgericht, dass es sich bei den Namen Siri und Alexa nicht nur um reine Produktnamen handle, sondern diese explizit verwendet werden, um Befehle zu erteilen. Dieser Umstand lade dazu ein, namensgleiche Menschen zu belästigen. (spiegel.de)


Das neue Modewort „tatsächlich“

Im Süddeutsche Zeitung Magazin berichtet Tobias Haberl über Wörter, die eine gesamtgesellschaftliche Popularität gewinnen und zeitweilig zum alltäglichen Sprachgebrauch gehören: die Modewörter. Laut Haberl waren die Anglizismen „cringe“ oder „nice“ Modewörter der Vergangenheit. Nun beobachtet er jedoch, dass sich „tatsächlich“ ebenfalls als Modewort entpuppt. „Tatsächlich“ dient zur Hervorhebung einer Tatsache, die wider Erwarten eingetreten ist oder auch als Adjektiv. Haberl bezieht sich jedoch auf die Verwendung des Wortes als Lückenfüller am Satzanfang: „Tatsächlich habe ich Jura studiert“, „tatsächlich lebe ich in Heidelberg“. Haberl kommentiert: „Also ich fühle mich regelrecht umzingelt“. Die „Tatsächlich-Seuche“, wie Haberl sie bezeichnet, finde sich nicht nur unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, „infiziert“ seien vor allem Radiomoderatoren. Gespräche mit Sprachwissenschaftlern hätten ergeben, da sei auch ein Einfluss des Englischen zu erkennen, denn das im Englischen häufig verwendete „indeed“ hat sich durch „tatsächlich“ in die Alltagssprache gemogelt. Andere Linguisten erklären, es handle sich um normalen Sprachwandel, und das „Tatsächlich“ diene in diesem Fall eher der Sprachstrukturierung durch junge Leute in den Städten. (sz-magazin.sueddeutsche.de)


Aus für „Die Mannschaft“

Der Deutsche Fußball-Bund hat beschlossen, das Nationalelf-Synonym „Die Mannschaft“ abzuschaffen, schreibt der Spiegel. Der Begriff habe zwar einen hohen Bekanntheitsgrad und finde besonders im Ausland Anerkennung, so DFB-Präsident Bernd Neuendorf. „Fakt ist aber auch, dass er in Fankreisen hierzulande mitunter kritisch gesehen und emotional diskutiert wird“, sagt er. Umfragen hatten dies zuletzt bestätigt. Der Name sei ein Kunstbegriff, so sähen es viele Fans, eine echte Identifikation mit der Mannschaft habe trotz der gleichlautenden Bezeichnung nicht stattgefunden. Sie war 2015 eingeführt worden, nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Brasilien im Jahr zuvor. Die Idee dahinter war vermutlich, eine unverkennbare und allgemein akzeptierte Marke zu schaffen, ähnlich wie es sie mit der Équipe Tricolore (Frankreich), der Squadra azzurra (Italien), der Seleção (Brasilien) oder den Three Lions (England) gibt. (spiegel.de)


Politik im Eisregal

Eine Umbenennung sorgt für Wirbel. Die Supermarktkette Edeka hat ihre Eissorte „Sandwich Moskauer Art“ umbenannt. Moskauer wurde durchgestrichen und durch Kiew ersetzt. In dieser Version soll die Verpackung laut Edeka auch vorerst bleiben, danach werde das Eis komplett umbenannt in „Ice Snack Sandwich“. Mit der temporären Umbenennung will die Edeka laut eigenen Angaben ihre Solidarität mit der Ukraine deutlich machen. Schon kurz nach Beginn des Krieges hatte die Edeka angekündigt, russische Produkte aus den Regalen zu nehmen. (stern.de)


2. Gendersprache

Die Tests führen in die Irre

Befürworter des Genderns verweisen gern auf psychologische Studien, die beweisen sollen, dass die generische Standardform (Bürger) Personen männlichen Geschlechts gedanklich überrepräsentiert. Ein Artikel in der Berliner Zeitung nimmt sich diese Studien genauer vor und kommt zu dem Ergebnis: Die deutsche Sprache diskriminiert Frauen nicht. Der Verfasser Tobias Kurfer stellt nicht nur grundsätzlich in Frage, dass Sprecher bei jeder Personenbezeichnung auch irgendwelche Bilder von Personen im Kopf haben. Für solche Effekte gebe es überhaupt keine wissenschaftlichen Belege. „Unsere inneren Bilder sind oftmals ziemlich vage“, so Kurfer. Beispiel: „Berlin hat 3,6 Millionen Einwohner.“ Kurfers Beitrag fasst die wissenschaftlichen Aussagen zu dem Thema in übersichtlicher Form zusammen. Er nimmt sich die einzelnen Studien vor und kann darin schwerwiegende Mängel nicht-wissenschaftlicher Arbeit nachweisen. „Mit anderen Worten: Die Tests führen in die Irre.“ Denn die Studien untersuchen Wörter nur in einem spezifischen Kontext, sind meist nicht einmal repräsentativ, und oft sind die scheinbaren Beweise in Zahlen winzig, nicht der Nennung wert, und für die Verallgemeinerung unbrauchbar, weil nicht gegen den in Statistiken zu berücksichtigenden Zufall gesichert.

Kufer schließt seinen Beitrag mit der Vernichtung eines Mythos um die Wörter Lehrer, Apotheker und Ärzte: „Dass sich Frauen nicht davon abhalten lassen, einen Berufsweg einzuschlagen, weil generische Maskulina im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien gängig sind, zeigen indes die wirklich belastbaren Daten. Von der Grundschule bis zum Gymnasium dominieren Frauen in allen Schulformen mit insgesamt 73,4 Prozent den Lehrerberuf. Etwa 70 Prozent der Medizinstudenten sind weiblich, 72 Prozent der Apotheker in Deutschland sind Frauen und ebenso die Mehrheit der jungen Anwälte bei ihrer Erstzulassung.“ (berliner-zeitung.de)

Siehe hierzu den Kommentar.


der oder die die der oder dem

Verwaltungstexte waren noch nie bürgerfreundlich abgefasst. Michaela Blaha hat vor 14 Jahren die Agentur Idema gegründet, mit der sie Texte von Behörden und Unternehmen lesefreundlicher macht. Das Gendern stört ihre Arbeit sehr, sagt sie in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen (WAZ). Die Forderung nach einer geschlechtergerechten Sprache hält sie für nachvollziehbar, in der Praxis stößt Gendern an Grenzen: „Aber ich finde das Binnen-I im textlichen Alltag nicht praktikabel. Es ist weiter ungewohnt, stört den Lesefluss, und viele Leute regen sich darüber auf. Für mich spricht auch gegen Gender-Schreibweisen, dass das männliche Geschlecht dabei grammatikalisch oft unterschlagen wird. Zum Beispiel ‚den Lehrer*innen‘“. Die männliche Form ‚den Lehrern‘ ist darin nicht mehr repräsentiert.“ Auch die Doppelnennung sei keine brauchbare Lösung, da sie die Texte unnötig verlängert. Der Inhalt könne nicht mehr angemessen dargebracht werden, außerdem würden bei den Lesern oft ablehnende Reaktionen geweckt. Verständlichkeit gehe vor, da sie allen Menschen helfe, so Blaha. „Man kann sich mit Gendersprache offenbar wunderbar profilieren. Und es gibt auch Gelder für Studien und Leitfäden zu Genderfragen, etwa nach dem Gleichbehandlungsgesetz.“ Die sprachliche Gleichberechtigung sei ein wichtiges Thema, aber in der Durchführung oft sinnlos: „Statt Fußgänger heißt es dort nun ‚zu Fuß Gehende‘, aus ‚Rollstuhlfahrern‘ werden ‚Fahrende von Rollstühlen‘, was fast schon nach Hochadel klingt. Das ist aber nichts, was jemand sagen würde.“ Speziell bei der Amtssprache sei Gendern ein Rückschritt: So stehe in der Bauordnung NRW ein Passus, der die Absurdität besonders verdeutliche: „Treten bei einem Bauvorhaben mehrere Personen als Bauherrin oder als Bauherr auf, so kann die Bauaufsichtsbehörde verlangen, dass ihr gegenüber eine Vertreterin oder ein Vertreter bestellt wird, der oder die die der Bauherrin oder dem Bauherrn nach den öffentlich-rechtlichen Vorschriften obliegenden Verpflichtungen zu erfüllen hat.“ Stumpf umgesetzt, so wie hier, bringe es die gesellschaftliche Wahrnehmung nicht weiter, wenn man sich vom Text mit Grausen abwendet, so Blaha. Ein Text dürfe dem allgemeinen Sprachempfinden nicht zuwiderlaufen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall einer Sparkassen-Kundin sei „ein gutes Beispiel dafür, dass es an manchen Stellen okay ist, nicht zu gendern.“ (waz.de (Bezahlschranke))


Schüler lehnen das Gendern ab

Eine Sendung des Bayerischen Rundfunks (BR) vom 31. Mai sorgt momentan im Netz für Aufsehen. Einzelne Ausschnitte der Sendung „Diversity-Talk 2022: Gendern – Modeerscheinung oder Sprach(r)evolution?“ kursieren momentan auf Twitter und ernten Spott. Neben den Podiumsgästen sollten nämlich auch Schulklassen darüber abstimmen, ob sie das Verwenden der Gendersprache befürworten. Nach der 40-minütigen Diskussion mit den Studiogästen Julia Fritzsche, freie Journalistin für den BR, Markus Huber, Pressesprecher des BR, Fabia Klein, stellvertretende Landesschülersprecherin, Moritz Meusel, ehemaliger Landesschülersprecher, und der Sängerin Seda Yagci wurden die anwesenden Schulklassen per Online-Abstimmung gebeten, sich zum Gendern zu positionieren. Eine deutliche Mehrheit wählte Option 1 „Gendern finde ich weiterhin unnötig“. Die Option „Gendern finde ich ab jetzt klasse!“ landete sogar auf dem letzten Platz. (bild.de)


Petition der Frauen gegen das Gendern

Das Gerücht, dass Frauen das Gendern grundsätzlich befürworten, da es sie „sichtbar“ mache, hält sich beharrlich – und das allen Umfragen zum Trotz. Die meisten Frauen lehnen das Gendern jedoch ab. Mehrere bekannte Frauen haben jetzt auf der Plattform openpetition.de eine Petition ins Leben gerufen, die sich gegen das Gendern richtet. So wollen sie sich endlich Gehör bei der Politik verschaffen. Gendern sei nicht nur unökonomisch und sprachlich falsch, vor allem behindere es ein Miteinander: „Statt Gleichheit und mehr Gerechtigkeit zu erreichen, reißt es Gräben zwischen den Geschlechtern auf, grenzt Menschen nach gruppenbezogenen Merkmalen aus und benachteiligt Menschen (…) und ist ein Integrationshindernis für Zuwanderer.“ Diese Initiative ergriffen haben unter anderen die Schauspielerin Gabriele Gysi, die Literaturwissenschaftlerin Elvira Grözinger und die Islamwissenschaftlerin Nasrin Amirsedghi. Männer sind als Unterstützer willkommen, denn das Sprachgendern „schadet insbesondere den Frauen, aber letztlich allen“, sagt Sabine Mertens, Verfasserin des Aufrufes. (openpetition.de)


3. Sprachspiele: Unser Deutsch

übertragen

In vielen Wörterbüchern findet sich die Abkürzung übertr. zur Charakterisierung einer Bedeutungsvariante. In zweisprachigen Wörterbüchern steht dafür meist fig. für figurativ. Es ist das Partizip Perfekt des Verbs übertragen. Überraschenderweise findet man das Wörtchen in keinem der großen Wörterbücher zur deutschen Gegenwartssprache. Nur im Kleinen Grimm, der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul findet sich ein kurzer Hinweis: „im Part. Perf. ein Wort übertragen gebrauchen ‚es nicht in seiner eigentlichen Bedeutung verwenden, metaphorisch, metonymisch verwenden“. Offenbar ist hiermit das Gegenstück zur ‚wörtlichen‘ Bedeutung gemeint. Mit übertragen erfassen wir also die sehr gr0ße Anzahl von metaphorischen und metonymischen Verwendungen, von zusätzlichen Bedeutungen, in denen ein Wort quasi hinübergetragen wird in einen anderen Bezeichnungsbereich. Was damit tatsächlich alles gemeint ist, bleibt aber im Dunkeln. So ist es mir zumindest über Jahre gegangen. Darum sei hier der Versuch gemacht zu einer etwas weiterführenden Erklärung.

Die Begriffe Metapher und Metonymie stammen, wie man schon an den Wörtern erkennt, aus der antiken Rhetorik, der Lehre von der Redekunst. Sie haben als ‚Tropen‘ ihre wissenschaftliche Heimat in der Literaturwissenschaft. Diese Tradition hat lange Zeit die grundlegende Bedeutung dieser Phänomene für die menschliche Sprache überdeckt. Die beiden Verfahren, Wörtern eine neue Bedeutung zu verleihen, sind ein elementarer, ein konstitutiver Bestandteil unserer Sprachkompetenz. Der Linguist John Lyons spricht von „metaphorischer Kreativität“, die grundlegend sei für das Funktionieren von Sprachen als semiotische Systeme (Semantik II, 1983, S. 184). Es sind kognitive Regeln, die wir intuitiv beim Sprechen und Schreiben anwenden und die wir ebenso beim Sprachverstehen benötigen.

Warum geht es konkret? Drei Beispiele: eine spitze Bemerkung, die Freundin ausspannen, (finanzieller) Engpass. Sie zeigen, wie ein Adjektiv, das eine Form beschreibt, übertragen wird auf eine Äußerung, der Pferdewechsel auf menschlichen Umgang und eine Engstelle in den Alpen auf die Finanzlage. In jedem Fall wird ein Wort in einen anderen Bezeichnungsbereich übertragen, gleichsam in einem verkürzten Vergleich. Wird solche Verwendung allgemein gebräuchlich, wir sagen ‚lexikalisiert‘, so hat sich eine neue Bedeutung im Wortschatz etabliert. Sie wird nun auch in Wörterbüchern verzeichnet.

Anders funktioniert Metonymie. Drei Beispiele: Nürnberg – Hamburg 0:0, Reichstag, Röntgenstrahlen. Nürnberg steht in diesem Kontext einer Bundesligatabelle für den FC Nürnberg, Hamburg für den HSV, der Reichstag steht auch für das Gebäude, in dem einst die Vertreter des Reiches tagten. Und die Röntgenstrahlen sind benannt nach ihrem Entdecker. In jedem Fall besteht ein sachlicher Zusammenhang zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung: der Ort des Vereins, das Gebäude der Versammlung, der Name des Entdeckers. Das unterscheidet die Metonymie grundlegend von der Metapher. Gemeinsam ist ihnen das kreative Verfahren der Benennung, das zu einer übertragenen Bedeutung führt. Vergleich oder Sachzusammenhang – die Möglichkeiten sind unendlich. Dies ist eine höchst ökonomische Praxis, mit einer beschränkten Anzahl von Wörtern eine unbeschränkte Menge von Sachverhalten zu bezeichnen. Allerdings wird nur ein kleiner Teil solcher Verwendung usuell, darum wird die Sache oft unterschätzt. Die Wörterbücher können das metonymische Verfahren garnicht abbilden, sie zeigen nur die Spitze des Eisberges, übertragen ausgedrückt.

Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de

4. Kultur

Der plattdeutsche Patient

Plattdeutsch sei vom Aussterben bedroht – diese Befürchtung hat die Sängerin und Kabarettistin Ina Müller, die bis zur Einschulung Plattdeutsch gesprochen hat und als ihre Muttersprache benennt. Aktuell werde es eher künstlich am Leben gehalten, so Müller. Das sei zwar einerseits gut, weil die Sprache nicht verloren gehe, andererseits entwickle sie sich gerade deswegen nicht mehr natürlich: „Die ganzen neuen Ausdrücke fehlen, oder sie werden künstlich hergestellt. Eine CD heißt dann ‚Spegelplatt‘, und so geht es mit vielen Wörtern,“ sagt Müller. Zudem würde es immer stärker kommerzialisiert: „Mich stört auch, dass Platt oft mit Mistforken und Hühnern inszeniert wird“, sagte Müller. „Leute in meinem Alter, die mit Platt aufgewachsen sind, gucken heute doch auch Netflix und hören Spotify. Da muss man doch das Plattdeutsche nicht ständig in diesen Kontext einbetten.“ Plattdeutsche Lesungen gebe sie nicht mehr, sie habe festgestellt, dass sie damit zu sehr auf das „Heimatthema festgenagelt wurde.“ (sueddeutsche.de)


„Buch“ über „Anführungszeichen“

Der Deppenapostroph ist ja vielen schon bekannt und wird gerne mal belächelt – doch auch Anführungszeichen sorgen oft für Erheiterung. Der Publizist und Unternehmensberater Hans Rusinek hatte vor Jahren bei einer geselligen Runde mit Freunden eine wortwörtliche „Schnapsidee“: Ein Hobby sollte her. Seitdem sammelt er ungewöhnliche und komische Anführungszeichen. Zusammengefasst hat er sie jetzt in „Das Buch der absurden Anführungszeichen“ (Seltmann Verlag). In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt er, er sehe in ihnen die Poesie des Alltags. Ihn fasziniert die Unsicherheit über die Bedeutung, die gleichzeitig eine Deutungsoffenheit darstellt. So wirke ein „Herzlichen Glückwunsch“ zum Geburtstag eher erheiternd, während andere Anführungszeichen manchmal Dinge verschleiern oder Unsagbares sagbar machen. Oft sind sie auch eine politische Aussage, so Rusinek: Frühere Veröffentlichungen der Springer-Medien setzten die „DDR“ in Anführungszeichen, um sich von ihr zu distanzieren. (deutschlandfunkkultur.de, instagram.com/awkward_anfuehrungszeichen)


5. Berichte

Übersetzerpreis für Klaus-Jürgen Liedtke

Der Übersetzer und Schriftsteller Klaus-Jürgen Liedtke bekommt vom Freundeskreis Literaturhaus Heidelberg den „Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik“ 2022 für sein Lebenswerk, gibt das Übersetzerportal UEPO bekannt. Laut Jury habe Liedtke „als Übersetzer aus dem Schwedischen und Dänischen und als Mitbegründer der virtuellen Ostseebibliothek (Baltic Sea Library) der deutschen Sprache eine reiche poetische Landschaft eröffnet.“ Zu seinem beeindruckenden Gesamtwerk gehören die Gesamtausgabe des lyrischen Werks von Gunnar Ekelöf, die fünfbändige Sammlung „Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde“ sowie zahlreiche Gedichte. Seine Übersetzungen würden zu einem Gewinn und fänden dabei „zu eigener Musikalität und Eindringlichkeit.“ Die festliche Verleihung findet Ende September statt. Eine Ausschreibung zu diesem Übersetzerpreis gibt es nicht, Bewerbungen sind ausgeschlossen. Über die Nominierung entscheidet eine unabhängige, vom Vorstand des Freundeskreises berufene Jury aus sieben Mitgliedern. Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert. (uepo.de)


Hanne Kulessa gestorben

Sie war Schriftstellerin, Moderatorin und Journalistin – und Gastgeberin eines literarischen Salons im Frankfurter Holzhausenschlösschen. Jetzt ist Hanne Kulessa am 24. Juli 2022 nach schwerer Krankheit gestorben, so die FAZ. Geboren in Loxstedt bei Bremerhaven hat sie Germanistik und Soziologie studiert, war Buchhändlerin und schrieb mehrere Kinderbücher und Erzählungen. Von 2003 bis 2014 war Kulessa Dozentin an der Goethe-Universität, dazu schrieb sie auch Erzählungen und Glossen für die FAZ und verfasste Buchrezensionen für den Hessischen Rundfunk. Vor allem im Frankfurter Raum ist sie für die vielen Veranstaltungen bekannt, die sie begleitet hat: 2002 kuratierte sie das erste Frankfurter Literaturfestival ‚Die Stadt am Fluss‘, aus dem später literaTurm hervorging. Ihre Verbundenheit zur ukrainischen Literatur führte sie zur Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Lemberg; im Jahr 2014, kurz nach den Maidan-Protesten, organisierte sie zusammen mit Studenten eine Lesung ukrainischer Schriftsteller im Literaturhaus Frankfurt. Ihrem Interesse für Handschriftliches und Briefe ging bis zuletzt die Veranstaltungsreihe „Salon kontrovers“ im Holzhausenschlösschen nach, schreibt das städtische Portal frankfurt.de. (faz.net, frankfurt.de)


Endspurt: Sprachpanscher-Wahl

Letzte Chance zur Stimmabgabe: Noch bis zum 5. August können Mitglieder des VDS ihre Stimme bei der Wahl zum „Sprachpanscher 2022“ abgeben. Der VDS zeichnet mit dem Negativ-Preis aus, wer im vergangenen Jahr besonders schlampig mit der deutschen Sprache umgegangen ist. Zur Wahl stehen fünf Kandidaten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat es mit seinem exzessiven Denglisch auf die Liste geschafft. Repurposing-Studien und die Coronavirus-Surveillanceverordnung sind Beispiele für seine sprachlichen Fehltritte. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat 21 Mio. Euro für die Kampagne Willkommen in The Länd ausgegeben und damit für viel Kopfschütteln gesorgt. Prof. Dr. Ulrike Lembke von der Berliner Humboldt-Universität hat ein Gutachten für die Stadt Hannover erstellt, das die Nutzung des Gendersternchens nicht nur rechtfertigt; es gehöre sogar ins Grundgesetz, sagt sie, da die Nicht-Nutzung eine grobe Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze bedeute. Der Oberbürgermeister der Stadt Freiburg, Martin Horn, ignoriert das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und lässt Stellenausschreibungen nur noch in der femininen Form ausstellen, zusätzlich steht dahinter ein (a) für alle, wie in „Vermessungsingenieurin (a)“. Mit Denglisch hat es auch die Kienbaum Consultants International GmbH, das führende Unternehmen für Personalberatung. Weil die Kienbaum-Jahrestagung nicht verständlich genug war, wurde daraus die People Convention, und People Sustainability soll angeblich The Next Chapter for Organizations sein. Zur Wahl geht’s hier lang: vds-ev.de.


6. Denglisch

Arkaden werden zum „Playce“

Das Einkaufszentrum am Potsdamer Platz in Berlin trägt in Zukunft den denglischen Namen „The Playce“. Der Betreiber gab dies in einer Pressekonferenz Anfang der Woche bekannt. Die Potsdamer Platz Arkaden sind seit 2020 aufgrund umfangreicher Baumaßnahmen geschlossen und sollen ab dem 15. September dieses Jahres unter dem neuen Namen schrittweise wiedereröffnet werden. „The Playce“ sei laut Karl Wambach, leitender Vizepräsident der Immobilienfirma, die sich um die Gebäudeverwaltung kümmert, ein Wortspiel aus dem englischen „play“ (spielen) und „place“ (Ort) und beziehe sich auf die neu-konzipierte interaktive Funktion der ehemaligen Arkaden. Neben Geschäften, Gastronomiebetrieben und Kneipen, sollen auch Kunstinstallationen und Veranstaltungen wie Lesungen und Musik ihren Platz in dem neuen Einkaufszentrum finden. (berliner-zeitung.de)


7. Soziale Medien

Ertrinkende Schwimmende

Die WDR-Sendung „Quarks“ ist bekannt dafür, komplizierte Dinge einfach darzustellen und Hintergründe zu beleuchten. Auf Twitter hat sie jetzt mit einer besonders unglücklichen Art des Genderns für Lacher gesorgt. „Jedes Jahr ertrinken Schwimmende in Flüssen, weil es einfach super gefährlich ist. Leute, lasst es einfach!“ steht in einem Tweet, dazu gesellt sich ein kurzes Filmchen. Dass das substantivierte Partizip „Schwimmende“ zeitlich gesehen nicht zum Ertrinken passt, fiel zahlreichen Twitter-Nutzern sofort auf – denn wer schwimmt, ertrinkt gerade nicht; während ein Ertrinkender nicht mehr schwimmt. So war die Häme groß: „Kinder, die noch nicht schwimmen können, heißen bei @quarkswdr Nichtschwimmende?“ fragte @Hallaschka_HH. „Sagt einfach ‚Schwimmer‘. ‚Die am Samstag ertrunkenen Schwimmenden wurden heute beerdigt‘ hört sich ein wenig dämlich an, oder?“ gab @markrudolph2701 zu bedenken. Und @AssiSpumante warf ein: „Schiffende sehen Schwimmende kaum. Gut dass es Rettende gibt! Nehmt euch ein Beispiel an @QuarkDDR“. Die Twitter-Satireadresse @QuarkDDR, die erst im Juli erstellt worden ist, hat bereits knapp 25.000 Anhänger (followers), sie hat gleich nach Veröffentlichung ihres Fast-Namensvetters eine eigene Infokachel hochgeladen, auf der sie vor den größten Gefahren in Flussnähe warnt: Angelsachsen, Wassermonsternde und Meerjungpersonen. (twitter.com/quarkswdr, twitter.com/QuarkDDR)


8. Kommentar

Schummeln schadet der Sache

Befürworter des Sprachgenderns zitieren häufig linguistische, eher psycholinguistische Studien, die uns Laien anscheinend schlagkräftig beweisen, dass das generische Maskulinum die Gerechtigkeit unter den Geschlechtern verhindert. Dass da nicht auf Taten, sondern auf Sprachkosmetik gezielt wird, ist für alle, nicht nur für Sprachfreunde, ärgerlich genug. Uns Laien plagt indes schon lange der Verdacht, dass bei der Beweisführung geschummelt werde. Offenbar ist es durchweg eine scheinbare, nicht eine anscheinende Beweisführung. Tatsächlich handelt es sich bei der gesamten Forschung zum Gendern um eine Handvoll Untersuchungen, die aber so häufig zitiert werden, dass man schon deshalb glauben könnte, da müsse was dran sein. Wir kennen Beweise aus der Mathematik, der Logik, dem Rechtswesen. Sie sind das positive Ergebnis eines auf die Feststellung von Tatsachen gerichteten Beweisverfahrens. Schummeln gilt nicht, und sei es noch so beliebt. Wir Laien genießen nicht die Zeit und Muße die Studien selber zu prüfen und zu erfahren, wie die Ergebnisse und ihre Folgerungen zustande kamen. Deshalb ist der heute vorgestellte Beitrag aus der Berliner Zeitung (Die Tests führen in die Irre) so willkommen. Da hat sich Tobias Kurfer die Mühe gemacht, genauer hinzuschauen, und was er entdeckt, ist die Mühe des Lesens eines langen Artikels wert. Man kann ihn auch zum Anhören anklicken. Schadenfreude wäre unangebracht. Wem soll es nützen, wenn die Geschlechtergerechtigkeit aus der Debatte gekegelt wird, weil Trickser ähnliche Methoden verwenden wie die notorischen, weltbekannten Lügner, die mehr an Verwirrung als an einem wahrhaftigen Umgang mit Problemen interessiert sind? Ausgerechnet über Sprachmanipulation zu Ergebnissen zu gelangen, ist schon fragwürdig genug, aber auf der Grundlage von „Beweisen“ aus völlig unbrauchbaren Studien zu argumentieren, wird noch dazu führen, dass das Thema ignoriert wird: ausgelutscht, fertig. Merke: Schummeln schadet der Sache, und der Sprache! (Oliver Baer)

Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten der vergangenen Woche zu verschiedenen Sprachthemen. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke, Jeanette Zangs

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