Infobrief vom 29. Mai 2022: Analphabetismus bei Erwachsenen – Schulen allein gelassen

1. Presseschau

Analphabetismus bei Erwachsenen – Schulen allein gelassen

Trotz ihres Schulabschlusses benötigen viele Erwachsene Alphabetisierungskurse, damit sie ihre Chancen auf einen angemessenen Beruf wahrnehmen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Jan Wiedemann von NDR Kultur hat über die Zusammenhänge den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, befragt. Dass auch die Schule versagt, wüssten die Lehrer schon länger, sagt dieser. Bei der PISA-Studie spreche man von Kindern und Jugendlichen, die maximal die Kompetenzstufe 1 erreichen oder gar darunter bleiben. „Und wenn sie sich nach der Schule auch noch weiter von der Lektüre von Texten entfernen, (…) dann werden sie tatsächlich zu dauerhaft funktionalen Analphabeten.“ Grundlegendes Problem seien jedoch die Sprachdefizite schon vor Schulbeginn, vor allem die Unfähigkeit, sich sprachlich differenziert auszudrücken und dafür einen Wortschatz zu besitzen, der mehr als hundert Wörter enthält. Das Schulsystem könne das Fehlende kaum ausgleichen, und da gehe es nicht nur um Kinder mit Migrationsgeschichte. Meidinger wiederholt die Forderung des Lehrerverbandes, dass schon mit den Vierjährigen Sprachstandstests gemacht werden. Dann könne man bei den 20 bis 30 Prozent mit großen Sprachdefiziten frühzeitig mit vorschulischer Förderung beginnen. Oft würden die Tests zwar gemacht, aber es fehlt das Personal für die anschließenden Fördermaßnahmen.

Meidinger nennt drei Entwicklungen, die einander überlagern. In wachsender Menge wird zuhause nach wie vor nicht Deutsch gesprochen. Ungebrochen ist auch die Tendenz, dass Kinder und Jugendliche, zumeist Jungen, kaum mehr lesen. Außerdem haben die pandemiebedingten Maßnahmen gerade denen am meisten geschadet, die besonders intensiven persönlichen Kontakt in der Schule benötigten. Sodann fehle, zumal an den Grundschulen das Personal. Die Forderungen zur Inklusion sowie die Integration kosten zusätzliche Energie, folglich komme auch die Digitalisierung nicht voran und für die ukrainischen Kinder werden über 20.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt. Die Grundschule könne der dauerhaften  Überforderung nur entgehen, indem sie sich auf die Grundlagen konzentriert: das Lesen, Rechnen und Schreiben. Alles andere müsse zurückstehen. (ndr.de)


Sprechende Affen

Wir teilen 98,5 Prozent unseres Erbguts mit den Affen – so gesehen trennt uns Menschen wenig vom Tierreich (50 Prozent teilen wir übrigens mit der Banane). Das gewisse etwas ist die gesprochene Sprache, und es ist einzigartig – oder etwa nicht? Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und des CNRS-Instituts für Kognitionswissenschaften in Lyon haben an der Elfenbeinküste 900 Stunden Lautäußerungen wilder Schimpansen aufgezeichnet. Dabei haben sie fast 400 auffällige Lautkombinationen festgestellt. Ihre Analyse ergab, dass die Menschenaffen zwölf unterschiedliche Rufe zu Hunderten verschiedenen Lautsequenzen kombinieren können. Auch wir Menschen kombinieren Laute nach bestimmten Regeln zu Wörtern, die wiederum nach bestimmten Prinzipien zu Sätzen zusammengesetzt werden. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass das vokale Kommunikationssystem der Schimpansen viel komplexer und strukturierter ist als bisher angenommen“, sagt Ko-Autorin Tatiana Bortolato, die sowohl in Lyon als auch in Leipzig forscht, auf n-tv.de. Weitergehende Forschungen auf dieser Grundlage könnten zeigen, wie sich unser gewisses Etwas, die Sprache, entfaltet hat. (n-tv.de)


Russisch lohnt sich immer noch

Die Zahl der Schüler, die an allgemeinbildenden Schulen Russisch lernen, sinkt seit Jahrzehnten. Und obwohl Russisch in der DDR noch obligatorisch als erste Fremdsprache gelehrt wurde, bestätigen Zahlen des Statistischen Bundesamts, dass im Schuljahr 2020/2021 nur noch 94.000 Schüler Russisch lernten, etwa 83 Prozent weniger als noch im Schuljahr 1992/1993. Anka Bergmann, Professorin für Fachdidaktik Russisch am Institut für Slawistik und Hungarologie in Berlin betont, dass Russisch einen festen Platz unter den Fremdsprachen an Schulen habe. Die russische Sprache sei eine wichtige Expertise, sie werde benötigt. Den Fremdsprachenunterricht in Deutschland bezeichnet sie als zu homogen, sie wünscht sich mehr Diversität im Sprachenangebot, das über die romanischen Sprachen hinaus gehen solle. Aleksej Tikhonov vom Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin erklärt, dass ausgebildeten Slawisten nicht nur Schule, Wissenschaft und Übersetzung als Berufsfelder zur Verfügung stehen. Journalismus, Stiftungsarbeit, NGOs und Start-Ups bieten vielfältige Gelegenheit zur Anwendung von Russischkenntnissen. Durch den Ukraine-Krieg hat sich das Ansehen des Russischen jedoch verändert. Chistian Hillemeyer von der Sprachlern-App Babbel bestätigt, dass das Interesse an der ukrainischen Sprache gestiegen ist, jedoch zahle es sich weiterhin aus Russisch zu lernen, denn „man erlernt nicht nur eine Fähigkeit, sondern auch eine Menge Neues über andere Kulturen und im Endeffekt auch über sich selbst.“ (welt.de (Bezahlschranke))


Mehr Sprachen an hessischen Schulen

Hessens Kultusministerium in Wiesbaden teilte am Mittwoch mit, dass das Fremdsprachenangebot in den Schulen ausgeweitet werde. Bei ausreichender Nachfrage werden ab dem Schuljahr 2023/2024 Portugiesisch und Arabisch als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten. Türkisch könnte künftig auch auf dem Lehrplan stehen, dies sei jedoch zunächst als Pilotprojekt ab dem Herbst an zwei Schulen in Kassel und Lollar im Kreis Gießen geplant. Die Entscheidung Türkisch erst in Form eines Modellversuchs anzubieten, stieß jedoch auf Kritik im Landtag. Für den hessischen SPD-Abgeordneten Turgut Yüksel sei dies „diskriminierende Politik“ und auch Moritz Promny von der FDP argumentierte, dass Türkisch eine besondere Bedeutung für das Land habe und in den Fremdsprachenkatalog hessischer Schulen gehöre. Ab 2024/2025 sei jedoch bereits geplant, das Angebot auszuweiten. (hessenschau.de)


Latein zum Deutschlernen

Überraschendes geschieht an einem Berliner Gymnasium. Durch ihren Lateinunterricht erzielten Schüler nichtdeutscher Herkunft deutliche Fortschritte im Deutschunterricht, zitiert die Welt Stefan Kipf, Professor für Klassische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Ernst-Abbe-Gymnasium besuchen fast ausschließlich Kinder „mit Migrationshintergrund“. Latein dient ihnen als Brückensprache zwischen ihrer Muttersprache und dem Deutschen, zumal der schriftliche Ausdruck dadurch deutlich verbessert werde. „Die Schüler kämen über Sprache ins Gespräch, ‚denn beim Übersetzen müssen sie sich Rechenschaft darüber ablegen, warum sie etwas wie ausdrücken‘“. In den vergangenen Jahren haben bis zu zwei Drittel der Abiturienten diese Schule mit einem Latinum verlassen, berichtet der Spiegel. Auch in China werde Latein gelernt, sagt Kipf, „um zu verstehen wie der Westen tickt“. Die Erkenntnisse aus dem Berliner Gymnasium können mangels Studien noch nicht verallgemeinert werden, aber „Vorbilder in Frankreich, Großbritannien und den USA zeigten, dass Latein bei allen Kindern gezielt zur Förderung von Sprache eingesetzt werden könne.“ (welt.de, spiegel.de (Bezahlschranke))


2. Gendersprache

Umfrage: Romane gendern?

In der „Schönen Literatur“ findet sich Gendersprache sehr selten – aus gutem Grund: Genderformen stören den Lesefluss oder führen zu Unklarheiten, beispielweise wenn maskuline und feminine Personenbezeichnungen abgewechselt werden. Wird hingegen konsequent durchgegendert, entsteht ein unlösbares Dilemma. So als würde man vom Nachbartisch dauernd um die Uhrzeit gebeten, zerreißt die abstrakte Frage (nach der jeweils angemessenen diversitätsgerechten Form) die Stimmung und lenkt ab von der Geschichte. Der Text wird ungenießbar. Das Meinungsforschungsinstitut Civey führt derzeit eine Umfrage durch, ob sich die Leserschaft mehr Genderformen in der Literatur wünscht. (civey.com)


Moderatorin erfährt Gegenwind

Die ehemalige ZDF-Moderatorin Petra Gerster äußert sich erschrocken über negative Reaktionen auf ihre Verwendung der Gendersprache. Gerster hatte im vergangenen Jahr ihre letzte Nachrichtensendung moderiert. Wie andere Moderatoren des ZDF nutzte sie die weibliche Form und kurz vor der Endung den sogenannten Glottisschlag, also eine Sprechpause, um klarzumachen, dass beide Geschlechter gemeint seien. Gerster erklärt: „Vor allem älteren Männern macht Angst, dass Frauen und Minderheiten immer lauter in unserer Gesellschaft mitreden und mitbestimmen wollen.“ Leserkommentare betonen jedoch, dass im durch Gebühren finanzierten Fernsehen wert auf gängige Grammatikregeln und Verständlichkeit gelegt werden sollte. (tagesspiegel.de)


3. Sprachspiele: Unser Deutsch

Pfingsten

Wer weiß noch, dass im Wort Pfingsten, historisch gesehen, die Zahl 50 steckt? Am 50. Tag nach Ostern geschah jene ‚Ausgießung des Heiligen Geistes‘, von der die Apostelgeschichte Lukas 2, 1-41 berichtet.

Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.

Der Apostel Petrus gab diesem Ereignis in einer großen Predigt eine heilsgeschichtliche, wir würden heute sagen eine ‚theologische‘ Deutung. Der Geist Jesu ist herabgekommen. Dreitausend, so wird berichtet, bekannten sich zu ihm und ließen sich taufen. Dies gilt seitdem als Gründung der Christlichen Kirche. Es ist ein klassisches Narrativ, ein Mythos, der Weltgeschichte geschrieben hat.

Pfingsten, mittelhochdeutsch noch ein Dativ Plural ze pfingesten, althochdeutsch (fona) fimfchustim hat einen Vorgänger in gotisch paintekustēn, eine Entlehnung von griechisch paintē kostē (hemera) ‚der 50. (Tag) nach Ostern. Die Zahl 50 geht zurück auf den jüdischen Brauch, sieben Wochen nach dem Passahfest das Erntedankfest Schawuot zu feiern. An jenem Festtag ereignete sich, wovon der Evangelist Lukas berichtet.

Und wieso ist ein griechisches Wort der Ursprung von Pfingsten? Weil Griechisch die damalige Lingua franca, die Koiné des östlichen Mittelmeerraumes war, eben auch die Sprache des Neuen Testaments.

Sprachhistorisch gehört Pfingsten zu den ältesten Lehnwörtern im Deutschen. An der anlautenden Affrikate pf erkennt man, dass dies Wort von der hochdeutschen Lautverschiebung (ca. 600/800 n. Chr.) erfasst wurde, also schon davor entlehnt war. Zu dieser Gruppe gehören auch opfern aus lateinisch operārī und Pfaffe aus griechisch pappas. Die frühe Bezeugung des Wortes im Gotischen deutet daraufhin, dass Pfingsten durch gotische Vermittlung zu den Westgermanen gekommen ist.

Soweit ein kurzer erinnernder Rückblick auf ein bedeutendes Wort, auf ein großes Ereignis. Dazu zum Schluss ein klassisches Zitat: „Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen“, so beginnt Goethe sein Versepos Reineke Fuchs. Der Satz ist sprichwörtlich geworden. Er steht für unser heutiges Verständnis eines christlich umflorten Frühlingsfestes, beliebt für Familienfeiern oder für eine kleine Auszeit in den Pfingstferien.

Horst Haider Munske

Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e. V. Ergänzungen, Kritik oder Lob können Sie schicken an: horst.munske@fau.de


4. Kultur

Wieder mehr „Moin“ in Schulen

Lange war das Plattdeutsche auf dem Rückzug, nur noch die ältere Generation sprach es. Mittlerweile hat es wieder Einzug in die Schulen gehalten, berichtet der NDR. So soll sichergestellt werden, dass auch die nachfolgenden Generationen ihr sprachliches Erbe nicht vergessen. Regelmäßig genutzt wird das Wort „Moin“ – solche kleinen Alltäglichkeiten wecken das Interesse für den Dialekt. Um das Kulturgut Sprache zu erhalten, werden jährlich vom Kultusministerium Schulen als „Plattdeutsche und Niederdeutsche Schulen“ ausgezeichnet. Dabei müssen verschiedene Kriterien erfüllt werden: Das kann eine Arbeitsgruppe sein oder die Verankerung des Plattdeutschen im Unterricht. So gebe es z. B. Schulen, in denen Kunst auf Platt unterrichtet wird. Auch außerhalb der Klassenzimmer würde Plattdeutsch regelrecht gelebt, sagt Schulleiterin Konstanze Döhle: „Also der Hausmeister kann das, und unsere Reinigungskräfte schnacken auf Platt und wir haben die Räume, da steht dann Lehrerzimmer drauf, oder ‚Schoolmesterstoov‘. Darum ist das nicht so etwas Abstraktes, sondern das wird so gelebt und das ist eigentlich so ein Stück Identität.“ (ndr.de)


5. Berichte

Braunschweiger Till an Lutz Tantow

Mit Corona-bedingter einjähriger Verspätung wurde der Sprachpreis Braunschweiger Till im Mai verliehen. Preisträger ist der Braunschweiger Autor Lutz Tantow.

Lutz Tantow hat nach einem Studium der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes als Journalist und Autor gearbeitet und Biographien unter anderem über Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch geschrieben. Beruflich ist er seit vielen Jahren mit dem Braunschweiger Land verbunden, zunächst durch seine Tätigkeit als Pressesprecher der TU Braunschweig, dann durch seine langjährige Tätigkeit als Pressesprecher der Nord/LB bzw. Braunschweigischen Landessparkasse. Er hat die Texte für einen aktuellen Bildband zur Stadt Braunschweig beigesteuert, literarische Stadtteilrundgänge durch Braunschweig verfasst und aktuell im Band „Als Eulenspiegel selbst einmal Münchhausen belog“ 19 Spaziergänge durch verschiedene Orte im Braunschweiger Land mit markanten historischen Persönlichkeiten wie Roswitha von Gandersheim oder Clemens von Hornburg vorgestellt.

Die Laudatio hielt Uwe Carlson, stellvertretender Vorsitzender der VDS-Regionalgruppe 38, der den kurzfristig verhinderten Prof. Dietrich von der Oelsnitz vertrat. Carlson hob die umfangreichen Verdienste von Tantow um das literarische Leben im Braunschweiger Land hervor, darunter die Leitung der AG Literatur in der Braunschweigischen Landschaft e.V. In seinen Dankensworten verwies Tantow darauf, dass der Braunschweiger Till die erste Auszeichnung für sein literarisches Schaffen sei. Dafür sei er sehr dankbar und er gab eine Kostprobe seines Wirkens mit der Verteidigungsrede des Till Eulenspiegels aus einem seiner jüngsten Werke.



Der VDS-Infobrief enthält Neuigkeiten der vergangenen Woche zur deutschen Sprache. Männer sind mitgemeint, das Gleiche gilt für andere Geschlechter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln gelegentlich die Meinung der Redaktion.

Redaktion: Oliver Baer, Holger Klatte, Asma Loukili, Dorota Wilke, Jeanette Zangs

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