Ungarn | Sprache des Herzens

Sprache des Herzens

Heimatmuseum-Wettbewerb und Tagung für die Liebhaber der deutschen Sprache

Die deutsche Sprache ist für uns, für das Ungarndeutschtum in den meisten Fällen leider nicht mehr unsere Muttersprache, aber auf jeden Fall die Sprache des Herzens. Sie ist die Sprache, die unsere Großeltern gesprochen haben, die Sprache, die die Vertriebenen und die in Ungarn Gebliebenen miteinander verbindet und sie ist für uns genauso wichtig, wie die ungarische Sprache. Die deutsche Sprache spiegelt auch die Denkweise, die Mentalität der Menschen wider, – wir Ungarndeutsche sind stolz auf die deutsche Sprache, sie ist immer ein Stück Kultur und Heimat und gleichzeitig die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für uns. Die Ausstellungen, Programme, Forschungsarbeiten des Jakob Bleyer Heimatmuseums sind alle zweisprachig. Die deutsche Sprache aufzugeben, das können wir uns nicht vorstellen, damit würden wir ein Stück unserer Identität verlieren. Die Pflege der deutschen Sprache ist für uns ein wichtiges Anliegen.

An unserem aktuellen Heimatmuseum-Wettbewerb Sprache des Herzens konnten alle Liebhaber der deutschen Sprache teilnehmen, darunter auch ungarndeutsche Schüler, Studenten und Pädagogen. Die Annahme der Anmeldung für die Teilnahme am Heimatmuseum-Wettbewerb Sprache des Herzens erfolgte am Tag der Muttersprache, am 21. Februar 2022. Die Teilnehmer wählten ein Thema und bereiteten dafür die Wettbewerbsarbeit (in deutscher Sprache) vor. Es gab 6 Themen (unter anderen Humor in der deutschen Sprache, Sprache der Großeltern, Anglizismen, Litera-Tour, Einfluss der sozialen Medien, Rolle der Identität) und zur Präsentation des Themas hatten die Bewerber mehrere Möglichkeiten (schriftliche Arbeit, Power Point Präsentation, Online-Vortrag/Unterricht, Zeichnung, Comics, Karikatur mit Sprechblase, Foto-Reihe mit Text-Ergänzung, Erstellung eines Videos, Podcast oder andere kreative Lösungen). Den Wettbewerb machten wir in den Frühlingsmonaten überall bekannt (Newsletters, Facebook-Posts, Webseite, Neue Zeitung-Artikel, Interviews im Rundfunk, E-Mails, Telefonate).

Abgabefrist der Wettbewerbsarbeiten war der 2. Mai 2022. Bis Ende April, Anfang Mai haben wir viele spannende Arbeiten zu „Sprache des Herzens” bekommen, die Anfang Mai auch die verehrten Jurymitglieder erhalten haben: Frau Éva Waldmann-Baudentisztl (stellvertretende Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen/LdU), Prof. Dr. Siegfried Franke (Mitglied im Verein Deutsche Sprache, Gastprofessor an der Universität Andrássy Gyula in Budapest), Prof. Dr. Nelu Bradean-Ebinger (Mitglied im Verein Deutsche Sprache, Professor an der Corvinus Universität in Budapest), Johann Schuth (LdU Abgeordneter, Chefredakteur der „Neuen Zeitung”), Josef Weigert (Institutsleiter des Ungarndeutschen Pädagogischen und Methodischen Zentrums/UMZ), Gábor Werner (Geschäftsführer des Vereins Ungarndeutscher Kinder/VUK) und meine Person. Die Jurymitglieder informierten uns bis zum 31. Mai darüber, welche Arbeiten Ihnen gefallen haben, welche Arbeit wieviel Punkte bekommen kann: die sehr guten Wettbewerbsarbeiten  bekamen 3 Punkte, die guten Arbeiten 2 Punkte und die Arbeiten, die befriedigend waren, kriegten 1 Punkt.

Die Gewinner wurden auf der Sprache des Herzens– Tagung am 10. Juni 2022 vorgestellt und erhielten Zertifikate und wertvolle Geschenke (Bluethue, Kopfhörer, wertvolle Bücher, Rosmarin, Gutschein für eine dreitägige Reise, Gutschein für Bücher, bei Kindern Spielzeug u.a.). In der Kategorie „Anglizismen” erhielt sowohl Frau Klára Kónya mit ihrer Power Point Präsentation „Experiment”, als auch Frau Krisztina Pats mit ihrem Gedicht „Deutsch.Deutsch?” 17 Punkte, wir gratulieren den Pädagogen herzlichst. Frau Mónika Feiertag und ihre Schülerinnen aus der ungarndeutschen Jakob Bleyer Grundschule erreichten mit ihrer Arbeit und mit ihrer kurzen, humorvollen Präsentation auf der Tagung 12 Punkte.

In der Kategorie „Sprache der Großeltern” gratulierten wir Frau Maria Herein-Kőrös für ihre berührend schönen Geschichten mit dem Titel „Momente aus dem Leben der Ungarndeutschen”, sie erhielt dafür 19 Punkte. Auf Platz 2 in dieser Kategorie war die Power Point Präsentation der ungarndeutschen Schüler Lili Hoffmann und Milan Smak mit dem Titel „Sprache der Großeltern aus Berzel”, sie erreichten 17 Punkte und wegen ihrer aufwendigen Arbeit – Recherchieren, Interviews führen – wurden sie zu einem Vortrag ins Museum eingeladen. In der Kategorie „Humor” landeten die witzigen Familiengeschichten von Frau Maria Herein-Kőrös mit 19 Punkten auf dem ersten Platz. Die Tonaufnahme von Herrn Peter Wesz aus Feked über „Klumpengeschichten” in Mundart gefiel den Jurymitgliedern, er erhielt dafür 12 Punkte. Auf Platz 3 war die Arbeit der ungarndeutschen Schüler aus Kerepes, die mit Hilfe ihrer Lehrerin Frau Zsuzsanna Széchi kreative Comics eingereicht haben.

In der Kategorie „Identität” stand Frau Krisztina Pats mit ihrer ausgezeichneten Idee zum „Stammtisch” auf dem ersten Platz, sie bekam 17 Punkte. Auf Platz 2 landeten die Schüler und ihre Lehrerin Ágnes Balogh aus der Schule Nr.1. in Wudersch, mit ihrem Text und ihren Comics zum Thema „Vertreibung” erreichten sie 14 Punkte. Wegen ihrer hervorragenden Arbeit und zur Motivation wurden sie auch zu einem Vortrag ins Museum eingeladen. Auf Platz 3 war die kreative Montage von Frau Lívia Róth und ihrer Schüler aus der Jenő Völgyesi Grundschule mit 13 Punkten, auf Platz 4. fanden wir die interessante, humorvolle Arbeit des Kindergartens „Csicsergő”. Die Kinder erhielten auf der Tagung Zertifikate, kleine Überraschungen und die Pädagogen Geschenke (Spielzeug) für den Kindergarten.

In der Kategorie „Litera-tour” erreichte die Mindszenty Schule in Wudersch mit ihrer Power Point Präsentation „Bibel in Bildern” 17 Punkte und stand mit dieser wertvollen Arbeit, schönen Zeichnungen eindeutig auf dem ersten Platz. Auf Platz 2 stand Frau Maria Scherzinger mit ihrem schönen Gedicht „Suche nach dem Leben”, sie bekam dafür 16 Punkte. Eine junge Teilnehmerin, Ludovica Volpe (9 Jahre alt) erhielt für ihren lustigen Vortrag 10 Punkte (Platzt 3.) und freute sich auf der Tagung über ihre Geschenke. In der Kategorie „Medien” landete ohne Frage Frau Maria Scherzinger auf dem ersten Platz. Mit ihrer Geschichte „Das Bündel heute” erhielt sie 19 Punkte und auch einen Sonderpreis, vor allem für die sehr tiefen, gut formulierten, aktuellen Gedanken! Auf Platz 2 stand Frau Maria Herein-Kőrös mit ihrer Familiengeschichte „Die Ansichtskarte aus Chicago” (17 Punkte) und auf Platz 3 fand man mit 14 Punkten den Schüler Noa Boral mit dem Text über „Wie beeinflussen soziale Medien die deutsche Sprache?”. Sein Thema war sehr aktuell, könnte noch erweitert werden und so hat man ihn auch zu einem Vortrag ins Museum eingeladen.

Aus den besten Arbeiten wird im Herbst 2022 im Jakob Bleyer Heimatmuseum eine interessante mobile Sonderausstellung eröffnet, bereichert mit drei interessanten Vorträgen von den jungen Teilnehmern, von Lili Hoffmann und Milan Smak, von den Schülern aus der Schule Nr. 1. in Wudersch und von Noa Boral.

Auf der „Sprache des Herzens”-Tagung freuten wir uns nicht nur über die Gewinner, sondern über die lieben Grußworte von Ehrengast Frau Katja Dorrmann, Kulturreferentin der Deutschen Botschaft Budapest und über zwei interessante Vorträge: eine junge Autorin las aus ihrem Roman „Die Stille bei Neu-Landau” vor (für die musikalische Umrahmung sorgte Oleg von Riesen) und Herr Prof. Dr. Siegfried Franke (Andrássy Universität) hielt einen interessanten Vortrag über „Gendergerechte Sprache”. Die Veranstaltung war gut besucht, an diesem Tag besuchten unsere Programme, unser Museum mehr als 60 Personen, Liebhaber der deutschen Sprache! Sie interessierten sich alle für diese schönen Geschichten, Texte, Arbeiten und künstlerischen Ideen. Denn Deutsch ist für uns die Sprache unserer Ahnen, die Sprache des Herzens! Für die freundliche Unterstützung danken wir dem Verein Deutsche Sprache – Das weltweite Netz der deutschen Sprache.

Dr. Kathi Gajdos-Frank

Direktorin, Jakob Bleyer Heimatmuseum und LdU Abgeordnete

SPRACHE DES HERZENS – TAGUNG

Freitag, am 10. Juni 2022, Jakob Bleyer Heimatmuseum Wudersch/Budaörs

PROGRAMM

  • 9.00 Uhr – Begrüßung der Gäste:
  • Grußwort von Frau Katja Dormann, Kulturreferentin der Deutschen Botschaft Budapest
  • Grußworte der Jurymitglieder
    • Frau Éva Waldmann-Baudentisztl, stellvertretende Vorsitzende der LdU,
    • Herr Prof. Dr. Siegfried Franke, Verein Deutsche Sprache, Andrássy Universität
    • Herr Prof. Dr. Nelu Bradean-Ebinger, Corvinus Universität,
    • Johann Schuth, Chefredakteur Neue Zeitung,
    • József Weigert, Institutsleiter/UMZ – Ungarndeutsches Pädagogisches und Methodisches Zentrum,
    • Gábor Werner, Geschäftsführer/VUK – Verein Ungarndeutscher Kinder
  • Preisübergabe – Kurze Präsentation der besten Arbeiten
  • 10.15 Uhr – Kaffeepause
  • 10.30 Uhr – Vorlesung von Autorin Katharina Martin-Virolainen aus ihrem Roman „Die Stille bei Neu-Landau“/Für musikalische Umrahmung sorgt Oleg von Riesen
  • 12.00 Uhr – Mittagessen
  • 13.00 Uhr – Vortrag von Prof. Dr. Siegfried Franke über „Gendergerechte Sprache“
  • ab 14.00 Uhr – Gemütliches Beisammensein (Gespräche führen, Besichtigung der Ausstellungen)

Durch das Programm führt Dr. Kathi Gajdos-Frank, Direktorin, Jakob Bleyer Heimatmuseum

Fotos von der Veranstaltung finden Sie hier (Quelle: Jakob Bleyer Heimatmuseum).

Das Bündel heute

Mit einem Bündel kamen unsere Ahnen vor gut 250 Jahren in das Karpatenbecken. Mit einem Bündel sind sie nach dem zweiten Weltkrieg vertrieben worden. Darin waren sowohl das wichtigste Hab und Gut als auch Vorräte für die lange Reise ins Ungewisse.

Das Bündel ist heute vielleicht eine Plastiktüte. Wieso kam mir dieser Gedanke? Weil mich eine wahre Geschichte über vier Frauen aus dem Kriegsgebiet Donezk immer noch fesselt. Ihre Zwangsreise brachte mir den aktuellen Krieg in der Ukraine sehr nahe, sozusagen hautnah.

Die Frauen sind Bekannte des ukrainischen Fußballkameraden meines Sohnes. Beide studieren zusammen in Mannheim und spielen Fußball. Am Donnerstag nach dem Training sagte er zu meinem Sohn: „Hey Kumpel, meine Bekannten aus Charkiw brauchen sofort Hilfe. Könntest du vielleicht ihnen eine Unterkunft in Ungarn organisieren? Du kommst aus Ungarn, nicht wahr? Kennst du jemanden, der ihnen Bett und Brot geben kann?“ Mein Sprössling reagierte sofort, ohne zu zögern: „Klar, meine Eltern. Ich frage sie gleich.“ Er stellte uns die Frage im Messenger: „Könnt ihr in meinem Zimmer ein Zuhause für vier Frauen aus der Ukraine einrichten? Sie kommen am Sonntag, falls alles klappt.“ Auf die Antwort brauchte er nicht zu warten: „Gerne, bring uns im Facebook zusammen!“

In der Not ist das Netz ein Wundermittel um Kontakte zu knüpfen.

Am gleichen Tag hatte eine ältere Frau aus Charkiw mit einem Schwung ihre wichtigsten Dokumente, Handy mit Ladegerät und Geld in eine Plastiktüte reingeschmissen. Mehr Zeit hatte sie nicht. Als die Sirenen zuerst sehr laut und bedrohlich tönten, war sie völlig schockiert. Es ist ihr nicht eingefallen, dass sie gleich fliehen und ihr Leben retten, noch dazu sich mehrere Tage im Keller aufhalten muss, ohne essen und sich waschen zu können. Hätte sie doch mindestens Wäsche zum Wechseln mitgebracht, dann wäre es ein bisschen komfortabler gewesen, um sich an diesen harten Wintertagen mit den Schicksalskameraden in Sicherheit zusammenzurücken, um die Kälte, den Hunger und die Gerüche von Menschen zu bewältigen.

Das ist unvorstellbar unmenschlich im 21. Jahrhundert, auf der östlichen Seite Europas. Der Körper im „Schlag-oder-Lauf-Modus“, die Daumen auf dem Handy ständig in Bereitschaft. Nachrichten kommen und gehen im Nu: „Lebst Du noch? Wo bist du?“ Dann wurde auf Instagram einen Podcast mit einer Straße in Trümmern gepostet, wie eine Bombe die Häuser der Zivilbewohner zerschlug. (Diese kurze Amateuraufnahme sahen wir uns am selben Abend mehrmals in den populärsten deutschen TV-Kanälen an.)

Die ältere Frau realisierte erst nicht, dass es ihr eigenes Haus war, das getroffen wurde. Dann plötzlich – wie ein Gedankenblitz – senkte sich das Gestöber in ihren Kopf, dass sie alles verloren hat, wofür sie das ganze Leben geschuftet hatte. Sie wurde in wenigen Sekunden haus- und heimatlos. Die Tränen trockneten noch nicht auf ihrer Wange, als sie von der Freundin ihres Sohnes eine SMS erhielt: Sie könne vor der Morgendämmerung in einen Wagen einsteigen, um nach Ungarn zu fliehen.

Zitternd am ganzen Körper vor Schock und Angst fuhren sie zu viert zwei Tage nach Beregsass, drei junge Frauen und die ältere Dame. An der Grenze warteten sie wenig, sie konnten reibungslos durchfahren. Nach drei Stunden Fahrt bis zur Unterkunft trafen sie am Sonntagnachmittag bei uns ein.

Als sie mithilfe von GPS unser Haus fanden und ausstiegen, umarmten wir einander spontan. Keiner dachte an die Maskenpflicht, die in Ungarn sowieso am nächsten Tag vorbei war. Ein richtiger Fels fiel mir vom Herzen, dass sie heil gesund ankamen.

Nach dem Abendessen erzählten die Frauen, wie sie sich über den gastfreundlichen Empfang freuen. Sie haben sich nichts anderes gewünscht, nur ein Dach über dem Kopf, warmes Essen, ein warmes Bett, die Waschmöglichkeit, WLAN und einen Schluck Wein. Als ob ich in ihren Gedanken gelesen hätte, habe ich ihre Wünsche erfüllt, ohne dass sie darum gebeten hätten. Am Tisch erlebten wir eine Achterbahn der Gefühle: Von der wahren Freude, dass sie am Leben sind, über das schlechte Gewissen, weil sie die Anderen zu Hause vermeintlich im Stich gelassen haben, das tödliche Grauen und die Angst, was mit den Anderen im Heimatland gerade passiert. Eine der jungen Frauen fasste die Lage kurz und bündig zusammen: „Der Führerschein ist in der Not am wichtigsten.“ In der Ukraine haben viele Jugendlichen weder den Führerschein noch einen Wagen. Doch diese junge Frau hatte beides und konnte damit vier Menschenleben retten.

Erst in der Nacht, in meinem bequemen Bett liegend tauchte der Gedanke auf: Was würde ich in mein Bündel packen, wenn jetzt die Sirenen anfingen zu heulen? Meinen Führerschein, meine Dokumente, Handy, Ladegeräte, Kreditkarte und – um überall im Home Office arbeiten zu können – eventuell auch den Laptop, klar…. Kann man in so einer verheerenden Lage so etwas planen, nüchtern vorsorgend das Bündel zusammenzustellen?

Mária Scherzinger

Mein Herz war schwer. Ich konnte nicht verstehen, warum wir Neu-Landau verlassen mussten. Keiner konnte es mir richtig erklären

Ein sehr lesenswerter Roman „Die Stille bei Neu-Landau” von Katharina Martin-Virolainen

Meine Oma Magdalena war ein kontaktfreudiger und geselliger Mensch (…). Was ich von meiner Oma Magdalena nicht wusste: Sie hatte einen Traum. Irgendwann wollte sie an ihren Geburtsort zurückkehren, ihn wenigstens noch einmal sehen. Im Jahr 1943 wurde sie von der Wehrmacht als Volksdeutsche zurück in die Heimat ihrer Vorfahren, nach Deutschland, gebracht. Nach dem Kriegsende wurde meine Oma mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihrer kleinen Tochter von der sowjetischen Armee nach Kasachstan deportiert. Es hieß, dass sie „in die Heimat” zurückgebracht werden. „Repatriierung” nannte man das. In Wirklichkeit war es gewaltsame Verschleppung an das andere Ende der Welt. Weit weg von dem kleinen Dorf in Deutschland, in dem sie sich bereits eingelebt hatte. Weit entfernt von ihrem Heimatdorf Neu-Landau in der Ukraine. Ausgesetzt wurden sie in der Steppe Kasachtans. Anfang der Neunzigerjahre kam meine Oma Magdalena als Spätaussiedlerin nach Deutschland. Sie siedelte um, kehrte zurück, wanderte aus: Es gab etliche Bezeichnungen dafür, wie sie vom Leben immer wieder zwischen Ländern, zwischen Kulturen und zwischen Sprachen hin- und hergeworfen wurde. Am Ende wusste sie selbst nicht mehr, wo sie richtig hingehörte – ein Schicksal, dass sie mit Millionen Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion teilte.

Diese Zeilen – gelesen im Epilog des Romans „Die Stille bei Neu-Landau” von Katharina Martin-Virolainen – zeigen uns das Schicksal der Russlanddeutschen und Spätaussiedler im 20. Jahrhundert. Nach 1938 mussten alle Schwarzmeerdeutschen großes Leid erleben – in den Kriegsjahren 1943/44 wurden sie von der Wehrmacht nach Deutschland zwangsumgesiedelt und nach Kriegsende von der Sowjetarmee nach Sibirien, Kasachstan deportiert. Über diese Stationen berichtet der Roman „Die Stille bei Neu-Landau” und schildert durch die Familiengeschichte von Julia deren Ursachen. Nach den Umsiedlungsaktionen der Deutschen aus der Ukraine – aus dem Schwarzmeergebiet in den Warthegau, von August 1943 bis April 1944 – blieben die Dörfer verlassen zurück und wurden später mit sowjetischen Staatsbürgern wieder neu besiedelt. Mit der geplanten Übersiedlung „Heim ins Reich” endete in diesen Kriegsmonaten das beinahe 150-jährige Geschichte der Deutschen im Schwarzmeergebiet. Nach dem Krieg wurden die Russlanddeutschen wieder betrogen: In Deutschland behauptete man, dass wir in die Heimat zurückgebracht wurden. In Wirklichkeit ging es für uns in stickigen Viehwaggons wochenlang an das andere Ende der Welt. Der Zug brachte unsere Familie nach Kasachstan. Viele von ihnen konnten Anfang der Neunzigerjahre als Spätaussiedler nach Deutschland umsiedeln, wussten jedoch nicht mehr, wo sie richtig hingehörten, denn drüben waren sie die Deutschen gewesen, die ewigen Feinde, die gehassten Faschisten. Hier sind sie zu „Russen” geworden.

In diesem Roman spielen vor allem die Frauen die Hauptrolle und sie sind trotz des Romantitels überhaupt nicht still, sie setzen sich mit ihrer russlanddeutschen Geschichte auseinander. Die Autorin lässt Frauen aus drei Generationen zu Wort kommen, die schon immer miteinander reden sollten, es aber bis jetzt nicht konnten. Hiermit möchte ich Katharina Martin-Virolainen zu dem Roman „Die Stille bei Neu-Landau” gratulieren und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser das Buch zum Lesen herzlichst empfehlen, denn in diesem Roman können wir uns, unsere Generation – die Enkelgeneration der Zeitzeugen – wiedererkennen. Es geht hier um unsere Identität, um Generationskonflikte und um Wege, die Sprachlosigkeit in Worte zu fassen und die verschiedenen Generationen der vertriebenen Deutschen ins Gespräch zu bringen. Die Geschichten und Bilder in „Die Stille bei Neu-Landau” haben mich als Ungarndeutsche tief berührt, oft zu Tränen gebracht und ich denke auch, redet miteinander! Wie das die Autorin im Schlusswort formuliert: Ich hoffe, dass die Generation unserer Großeltern den Mut aufbringt, uns ihre Geschichte zu erzählen – und dass wir, die Enkelgeneration, genug Kraft haben werden, uns diese Schicksalsberichte anzuhören, zu bewahren und an die nachkommenden Generationen weiterzugeben.

Autorin Katharina Martin-Virolainen wird aus ihrem Roman „Die Stille bei Neu-Landau” (2021) auf der Tagung „Sprache des Herzens” (10. Juni 2022, im Jakob Bleyer Heimatmuseum) vorlesen, für musikalische Umrahmung sorgt Oleg von Riesen.

Dr. Kathi Gajdos-Frank

Direktorin, Jakob Bleyer Heimatmuseum Budaörs, www.heimatmuseum.hu

(Katharina Martin-Virolainen. „Die Stille bei Neu-Landau”, ostbooks verlag Herford, 2021 – Die Autorin wurde 1986 in Karelien geboren, kam 1997 als Spätaussiedlerin nach Deutschland. Sie ist freie Journalistin, Autorin und Initiatorin zahlreicher Projekte in den Bereichen Kultur, Literatur und Geschichte der Deutschen aus Russland.)

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